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Karfreitagpredigt – für uns, bis in den Tod hinein

| Falk Schöller |

Ich habe mir vorhin die Ohren zugehalten. Ich wollte nicht hören, wie die Nägel sich durch Jesu Hände und Füße bohren. Ich wollte Jesu Schreie nicht hören. Ich will mir das nicht vorstellen.
Ich habe mir vorhin die Augen zugehalten. Ich wollte nicht sehen, wie Jesus nackt am Kreuz hängt. Auch die zynischen Soldaten wollte ich nicht sehen, die all das Blut ignorieren. Sie würfeln im Angesicht des Schreckens. Sie bereichern sich am Tod, bevor er eingetreten ist.
Ich habe mir vorhin aber nicht das Herz zugehalten, es nicht verschlossen.

Und so habe ich gesehen und gehört, was an diesem Ort in dieser Stunde auch geschehen ist. Was wir übersehen und überhören, wenn wir uns nur auf den Schrecken konzentrieren, was wir übersehen und überhören, wenn wir den Schrecken ausblenden, Augen und Ohren verschließen.
Ich habe es gesehen und gehört. Was am Rande der Geschichte geschehen ist – und doch im Zentrum, in der Mitte steht. In der Mitte zwischen: „Die Folterung begann“ und „Nun ist es vollbracht. So ist er gestorben: das Haupt gesenkt, ohne Atem.“

Atemlos ist Jesus am Ende, doch davor, da hatte er noch genug Atem, um seine vorletzten Worte zu formen. Worte voller Liebe und Hoffnung, Worte voller Vertrauen und Verantwortung, Worte voller Fürsorge und Menschlichkeit. Es gibt seine Liebe am Kreuz. Eine Liebe, die das Kreuz überdauert. Eine Liebe, die ein neues Zuhause, eine neue Heimat, eine neue Bindung schafft. Eine Liebe, die am Kreuz neu wird.

Maria und Johannes
Johannes. Der Schüler, der Jünger, der Nachfolger, den Jesus lieb hatte. Er hat sich nicht aufgedrängt, nicht in den Mittelpunkt gestellt. Er war da, nah dran, dicht bei Jesus. Oft zu Jesu Füßen gelegen, auch jetzt steht er bei Fuß.
Maria. Die Mutter, die von ihrem Sohn nicht gelassen hat, obwohl er sie doch in vielem enttäuscht haben muss. Vom Vater ist keine Rede – Jesus hat einen himmlischen Vater, der irdische spielt keine Rolle. Jetzt nicht.
Und auch andere spielen keine Rolle. Jetzt nicht.
Johannes, Maria. Maria. Johannes.

Diese zwei: Was sie wohl in diesem Moment gedacht und gefühlt haben?
In Marias Augen waren sicher Tränen. Um ihren Sohn, ja. Aber auch um den Rock. Dieses ungenähte Stück Stoff, das sie auf einem einzigen Webtuch erschaffen hatte. Vor vielen Jahren. Schön war der Leibrock, etwas Besonderes. Sie hatte diesen Jesus auf den Leib zugeschneidert. Hatte Maß genommen. Ein Kleidungsstück erschaffen, das Jesus sein ganzes Leben begleiten sollte. Vor Augen sicher ein langes Leben. Doch jetzt: Ein kurzes, zu kurzes Leben. Ein intensives Leben.
Maria erinnert sich an den ersten Fleck auf dem Rock. Sie wollte sich eigentlich aufregen. Doch sie war ja selbst schuld gewesen. Bei der Hochzeitsfeier, als der Wein ausging. Und sie Jesus um Hilfe gebeten hatte. Um ein Wunder. Auf wunderbare Weise wurde aus Wasser Wein, ein wunderbarer Tropfen. Das Wasser läuft ihr im und zusammen, wenn sie sich erinnert. „Man schenkt den besten Wein zuerst aus“, wird der Wirt angegangen, so gut ist der Wein. Als Jesus den Probeschluck nimmt, wischt er sich den Mund ab, einige Tropfen rinnen aus den Mundwinkeln auf ihren Leibrock. „Das geht nie wieder raus“, hatte sie noch gedacht, und dann gelacht: „Von diesem guten Tropfen geht kein Tropfen verloren!“ Sie nimmt selber einen Schluck, geht auf die Tanzfläche. „So ein Tag, so wunderschön wie heute, so ein Tag, der könnte nie vergehn.“ Jesus. Mein Sohn.
Maria weint. Mitten im Schrecken läuft ihr eine Freudenträne über die Wangen und sie ist glücklich, einen kurzen Moment nur. Wenn Jesus ihr jetzt in die Augen sehen könnte! Sie traut sich nicht zu Jesus zu sehen. Ihr Blick fällt auf Johannes. Auch über seine Wange läuft eine Träne.

Johannes sieht nicht, dass Maria ihn ansieht. Er ist mit seinen Gedanken woanders. Nicht hier. Am Kreuz. Er will Jesus so nicht sehen. Und er kann ihn auch nicht sehen. Denn seine Augen sind feucht. Was jetzt ist, verschwimmt, was früher war, sieht er klar. Sein Kopf ist voller Erinnerungen, an all die Geschichten, die er mit Jesus erlebt hatte. Er hat den Geruch von Verwesung in der Nase, es stinkt bestialisch hier. Johannes kennt den Geruch, der ihn einige Tage zurückwirft. Lazarus hatte auch so gestunken, drei Tage war er schon tot, als sie ankamen. „Du kommst zu spät. Jetzt kann man nichts mehr machen.“ Diese Worte erinnert er. Doch für Jesus gibt es kein zu spät. „Bei Gott ist nichts unmöglich. Habt Vertrauen.“ Das klingt in seinen Ohren. Jesus hatte ihn das gelehrt und gelebt – und er, Johannes, hat das gehört, geglaubt, erlebt. Als Lazarus sich erhob, all die Leichentücher abnahm und so nackt war, wie Jesus jetzt auch. So viel Leben in einem Toten. Das gibt es doch gar nicht. Johannes ist in seiner Erinnerung. Nicht gefangen, sondern befreit: Der Tod muss kein Ende sein. Hosianna. Johannes weint, Hoffnung schiebt sich vor die Trauer, Liebe vor den Schrecken. Dieser dunkle Moment muss nicht das Ende sein. Er spürt, wie sein Blick trüb wird. Das Schreckliche vor ihm sieht er nicht mehr klar, dafür umso klarer, umso deutlicher die Hoffnung. Sie steht ihm vor Augen. Ein Glücksgefühl überkommt ihn, einen kurzen Moment nur. Wenn Jesus ihm jetzt ins Herzen sehen könnte! Er traut sich, zu Jesus zu sehen, hebt seinen Kopf, schaut auf Jesus – und spürt in dem Moment, wie der Blick Marias auf ihn gerichtet ist. Johannes sieht auf Jesus. Maria sieht auf Johannes. Eine wunderbare Dreiecksbeziehung.
Und Jesus? Jesu Blick richtet sich auf die beiden, die Weinenden. Sie lachen, obwohl sie weinen, sie hoffen, obwohl es schmerzt, Ihr Herz zerbricht, sie lieben herzlich das Leben. Maria. Johannes. Jesus.

„Ihr Lieben“, sagt Jesus, „Meine Lieben. Meine Geliebten.“ Mutter. Sohn.
Jesus setzt Maria und Johannes in eine neue Beziehung. In Liebe und Sorge füreinander. Über den Tod hinaus. Jesus denkt ins Leben hinein. Jetzt. Am Kreuz. Zwischen Folter und Tod. Wo es allen den Atem verschlägt, hat er noch genügend Lebensluft, um Worte zu formen, die den Tod überleben.
„Mutter, das ist von nun an dein Sohn!“ „Dort! Deine Mutter!“
Was Gott zusammenfügt, scheidet der Tod nicht.

Das ist so, im vorletzten Moment. Bevor es zu Ende geht, ist Jesus am Ziel. Jesus steht der Tod vor Augen, aber er sieht das Leben, die Beziehung, den Menschen. Maria, seine Mutter. Bald Mutterseelenallein. Joahnnes. Den Liebling. Treu bis in den Tod. Jesus sieht beide, bezieht sie aufeinander. Von nun an. Dein.

Am Kreuz gibt es eine Kraft, die Liebe sät und Beziehung stiftet. Die kein Tod brechen kann, die weiter geht und weiter lebt. Gesprochen. Versprochen. Es ist vollbracht.

So geht Jesu Lebensweg zu Ende. Wer das glaubt, glaubt schon viel. Aber hofft noch nicht genug. Denn dieses Ende ist nur der Auftakt zu einem Finale. Das noch viele überraschen wird. Und bei dem noch viele Freudentränen geweint werden. Von Maria. Von Johannes. Und von vielen. Es wird auch wieder riechen, intensiv. Nach gegrilltem Fisch. Und wieder wird einer ohne seinen Leibrock nackt sein. Habt Geduld! Das Beste kommt noch! Versprochen. Denn der Friede Gottes ist wahrhaft höher als alle menschliche Vernunft und Unvernunft. Und bewahrt uns, Herzen und Sinne, im Leben, im Tod. Und weit darüber hinaus. In Jesus, dem Christus, unserem Herrn. Amen.