Skip to main content

Nachlese zum Weihnachtsoratorium

| satorrotas |

Geistlicher Impuls für den RC Düsseldorf

Pfarrer Falk Schöller, 15. Dezember 2024

Liebe rotarische Familie,
nach Gesprächen, nach gemeinsamen Erlebnissen, nach Beratungen verfasse ich gelegentlich
Nachlesen. In einem Mail verdichte ich meine Eindrücke – verdichten im doppelten Sinn. Ich
komprimiere, fasse zusammen, und ich verdichte, fasse in Sprache, in Worte, was mir nachgängig als
besonders und als wichtig in Erinnerung geblieben ist.
Bei Rotary ist das mein Amt, als Schriftführer. Aber es ist auch mein Beruf, als Schriftgelehrter. Ich
habe einst gelernt, das nachzulesen, was andere geschrieben haben, und auch nachzuspüren,
welche Erlebnisse und Erfahrungen dem Geschriebenen zugrunde liegen. Um daraufhin dies neu in
Worte zu fassen, in eigene Worte – eine Übersetzung und Übertragung. Manches Mal geschieht dies
auf der Kanzel, dann lese ich meine Auslegung vor und trage so den alten Text in neuer Form zu
Menschen, die hoffentlich zuhören. Manches Mal geschieht dies in Protokollen oder Mails, dann
lesen Menschen, die hoffentlich aufmerken und verstehen.
Heute will ich eine kleine Nachlese wagen zu dem, was wir eben gehört haben. Zum
Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Er hat verdichtet und vertont, was ihm beim
Nachlesen und Nachspüren der Weihnachtsgeschichte wichtig geworden ist. Vor knapp dreihundert
Jahren ist das WO entstanden, in gut dreihundert Kilometer Luftlinie ist es 1734 in Leipzig
uraufgeführt worden. Eindrucksvoll dazu auch der neue ARD-Spielfilm, Bach – ein
Weihnachtswunder, diesen Mittwoch, 20.15 Uhr in der ARD und schon jetzt und jederzeit in der
Mediathek.
Doch zurück zum Gehörten, Erlebten, Erspürten eben in der Johanneskirche.
Was ist unserer Erinnerung würdig – was erinnere ich, in jedem Fall?
Um Menschen in ihrem Alltag zu unterbrechen – die kürzeste Definition von Religion ist nach
Johann Baptist Metz Unterbrechung – um eine solche Unterbrechung zu erreichen und unsere
Aufmerksamkeit zu gewinnen, braucht es Pauken und Trompeten. Dem Anfang des
Weihnachtsoratoriums liegt ein besonderer Zauber inne. Paukenschläge und Trompetenfanfaren
sind die Ouvertüre, der Auftakt, mit dem wir eingestimmt werden. Um sofort aufgefordert werden,
sich ganz und gar auf das Geheimnis der Weihnacht einzulassen. Jauchzet. Frohlocket. Auf. Preist die
Tage, Rühmt, was heute der Höchste getan.
Das entscheidende Wort dabei ist „heute“. Heute ist Weihnachten. Gottes Handeln ist kein
vergangenes Geschehen, sondern ganz und gar gegenwärtig. Heute, heutzutage, handelt Gott hier
an dir. „Lasst das Zagen. Verbannt die Klagen.“ So stimmt Weihnachten. So stimmt uns
Weihnachten. Frohlocken. Das ist Freude in ihrer unübertrefflich gesteigerten Form. Und dies wird
wieder und wieder wiederholt. Das einmalige Geschehen in Bethlehem wird wieder und wieder in
unsere Gegenwart, in unser Leben, in unsere Gestimmtheit geholt. „Tönet ihr Pauken. Erschallet ihr
Trompeten.“ Lasst euch unterbrechen!
So weit der Auftakt. So weit einmal vorab. Schon vor Weihnachten drang heute an unser Ohr, wie
wir Weihnachten feiern. Der Heilige Abend, die Heilige Nacht – jetzt sind sie eingestimmt auf das
Christfest. Für uns, die wir des Wartens unfähig geworden sind, wird es vorweihnachtlich
weihnachtlich. Unterbrechen wir also, um zu frohlocken. Weihnachtseros pur.
Auf diesen Paukenschlag zu Beginn folgt ein Rezitativ. Bach erinnert an die biblische Geschichte,
setzt sie nicht als bekannt voraus, sondern ruft sie in Erinnerung. Solche Erinnerung ist notwendig,
gerade wenn der geistige Grundwasserspiegel sinkt und die Grundlage des Glaubens in
Vergessenheit zu geraten droht. „Es begab sich aber zu der Zeit.“
Nun sind wir also wachgerüttelt und erinnert. Was hat der Höchste getan. Aber was hat er uns
getan? Es folgt die erste Arie kommt. Arien sind im Weihnachtsoratorium die Momente der
Innerlichkeit, des Nachklingens und Nachspürens. Das äußere Geschehen wird ins innere Erleben
verlagert, hineingezogen. Eine Übersetzung, Überführung, Übertragung vom Ohr ins Herz. „Bereite
dich, den Liebsten bald bei dir zu sehen.“ Das ist ein Liebeslied. „Noch ist Gott nicht bei dir
angekommen, noch bist du dazu nicht bereit.“ Das weiß Bach. Er kennt uns. Und er weiß auch, dass
nur die Liebe stark genug ist, um uns wirklich zu verändern. Ein Liebeslied erklingt also, dringt an
unser Ohr. Begleitet von der Oboe d’amore. Bereite dich vor – ein innerliches, intimes, zärtliches,
liebliches Geschehen. „Bereite dich. Eile dich. Deine Wangen müssen heute viel schöner prangen.“
Bach beschreibt die Liebe zu Gott als eine echte, erfahrbare, persönliche Liebe. Glaube ist eine
Herzensangelegenheit, zuallererst. Gott ist Person – wird Mensch, und kommt so aus dem
abstrakten einer höheren Macht („der Höchste“) in ein konkretes Gegenüber („den Liebsten“). Es
geht, um es in frommer Sprache zu fassen, um die persönliche Beziehung zu Jesus, dem Christus.
Der für mich, mit mir, um mich ist, in guten wie in schlechten Tagen. Das Weihnachtoratorium ist
wie eine Einladung zum Hochzeitsfest, zu meiner Hochzeit mit Jesus. Das klingt für heutige Ohren
seltsam, romantisch, idealistisch – aber so bekommt der Glaube einen eigenen Platz, ist nicht Moral
oder Verstand, sondern eine eigene Provinz im Gemüte. (F.D.E. Schleiermacher)
Doch Bach weiß auch, dass wir als Einzelne nicht nur gefordert, sondern überfordert wären, würde
Weihnachten nur ein privates, individuelles Fest sein. Glaube geht nur in Gemeinschaft. Deswegen
folgt auf das intime Du der Liebesarie das stimmungs- und stimmenvolle Wir der Gemeinde, der
Choral. „Wie soll ich dich empfangen? Wie begegne ich dir?“ Wir sind alleine nicht in der Lage, das
Weihnachtsgeheimnis zu erfassen. Und so erhebt sich der Gemeindechoral, der volle Klang der
Gemeinschaft. Aber nicht in Selbstwirksamkeitsüberzeugung, sondern im gemeinsamen Fragen,
mehr noch im gemeinsamen Bitten. An Weihnachten erleuchtet zu werden, von Gottes Ankunft
mitten unter uns berührt zu werden – das ist nicht menschliche Möglichkeit, sondern liegt allein in
Gottes Hand. „O Jesu, Jesu, setze mir selbst die Fackel bei, damit was dich ergötze, mir kund und
wissend sei.“ Gemeinsam zu bitten, dass Gott mit seiner Liebe, seinem Frieden, seiner Schönheit
unter uns ist, dazu singt die Gemeinde gemeinsam den Choral. Und alle stimmen ein, in die
vertraute Melodie.
Die vertraute Melodie ist dieselbe, auf die „O Haupt voll Blut und Wunden“ gesungen wurde. Krippe
und Kreuz gehören zusammen. Weihnachten, Karfreitag und Ostern sind untrennbar ein und
dasselbe Geschehen. So hat auch die düstere Seite des Lebens, der conditio humana, ihren Platz,
klingt an. Es ist nicht naive Glückseligkeit, eine Weltflucht, sondern eine gereifte Freude, Folge von
Gottes Weltsucht: Gott kommt zu uns auf diese Welt, so wie sie ist. Göttlicher Realismus führt zu
menschlichem Idealismus: eine andere Welt ist möglich.
Lohnend wäre nun ein Durchgang durch da ganze Weihnachtsoratorium, doch das würde eine
verdichtete und verdichtende Nachlese sprengen. Es sind ja noch ein paar Tage bis zum Heiligen
Abend – an Stunden und Tagen mangelt es nicht, dass wir selber nachlesen, was wir gehört haben.
Um dann, wenn es so weit ist, in das Jauchzet, frohlocket erneut einzustimmen.
Ein letzter Gedanke sei mir noch erlaubt. Ein kleiner, fast unscheinbarer Einschub in einem Rezitativ
aus dem fünften Teil, gedacht für den Sonntag nach Neujahr, sei für das neue Jahr uns mitgegeben,
auf dass es uns das ganze Jahr trage.

„Wohl euch, die ihr dies Licht gesehen.
Es ist zu eurem Heil geschehen.
Mein Heiland, du, du bist das Licht,
das auch den Heiden scheinen sollen,
und sie, sie kennen dich noch nicht,
als sie dich schon verehren wollen.
Wie hell, wie klar muss nicht dein Schein,
geliebter Jesu, sein!“

Es ist uns an Weihnachten eine Wohltat geschehen. Zu unserem Heil. Heil meint, als Übersetzung
des hebräischen Schalom, eine umfassende Wohlordnung, ein alles umspannender Friede, der
Menschen und Tieren, der ganzen Schöpfung gilt. Und der auch in all unsere Beziehungen
einstrahlt, in die Familien- und Freundeskreise. Ein Friede, der aller Welt gilt. Das Geheimnis von
Weihnachten erschließt sich dem, der es universal denkt. Nicht als etwas, das bloß auf die eigene
Konfession, das eigene Bekennen, auf die eigene Religion, die eigenen Wurzeln, zurückweist und bei
sich und den Seinen bleibt. Das Gegenteil ist wahr: Das Geheimnis, dass Gott Mensch wird, um uns
und alle zu erlösen, um wirklich allen Menschen und Geschöpfen den Frieden, den Schalom zu
bringen, ist universal, gilt dem ganzen Universum.
Im Namen Gottes also: Friede mit dir. Friede mit euch. Friede allen, allerzeiten und allerorten. Ein
solcher Glaube ist keine Engführung, sondern eine Führung in die Weite, in den Horizont des
offenen Himmels. Das haben wir gehört. Wollen wir es glauben. Um dann das Glück in der höchsten
Form zu erleben: Jauchzet! Frohlocket! Auf preiset die Tage. In diesem Sinne also, so sei es. Mit
einem Wort: Amen.
Pfarrer Falk Schöller