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Karfreitag Bibeltext aus Johannes 19: Die Folterung begann

Die Soldaten schlugen Jesus Nägel ins Fleisch,
er war nackt, nahmen die Kleider, zählten jedes Stück:
„Wir teilen durch vier, dann geht niemand leer aus“,
nur den Rock, den er am Leib trug, konnten sie nicht zerteilen;
denn er bestand, durch keine Nähte verbunden, aus einem einzigen Webtuch.
„Um den Leibrock wollen wir würfeln,
wer die höchste Zahl hat, mag ihn behalten.“
Und so würfelten die, damit sich das Schriftwort erfüllte:
„Verteilt haben sie, unter sich, meine Kleider,
und um meinen Leibrock haben sie Würfel geworfen.“
Seine Mutter aber stand nah bei den Soldaten,
den Nägeln und den Würfeln,
und bei ihr war ihre Schwester,
dazu Maria, die Frau des Kleophas, und Maria, die aus Magdala kam.
Jesus aber sah seine Mutter und sah den Schüler, den er lieb hatte,
Johannes, und sagte zu ihr:
„Mutter! Das ist von nun an dein Sohn!“
Und zu dem Schüler sagte er:
„Dort! Deine Mutter!“
Und von dieser Stunde an nahm sie der Schüler,
als seine Mutter, zu sich ins Haus.
Es war die Stunde, da Jesus wusste:
Nun wird es enden, und es kommt alles ans Ziel,
denn die Schrift will erfüllt sein, und er redete mit ihren Worten:
„Ich bin sehr durstig.“
Da nahmen die Soldaten ein Essigfass, holten einen Schwamm,
tunkten ihn in Essig, setzten ihn auf die Spitze eines Stocke, eines buschigen Stengels, hoben ihn an Jesu Mund, und der berührte den Schwamm mit seinen Lippen:
Nun ist es vollbracht.

Karfreitagpredigt – für uns, bis in den Tod hinein

Ich habe mir vorhin die Ohren zugehalten. Ich wollte nicht hören, wie die Nägel sich durch Jesu Hände und Füße bohren. Ich wollte Jesu Schreie nicht hören. Ich will mir das nicht vorstellen.
Ich habe mir vorhin die Augen zugehalten. Ich wollte nicht sehen, wie Jesus nackt am Kreuz hängt. Auch die zynischen Soldaten wollte ich nicht sehen, die all das Blut ignorieren. Sie würfeln im Angesicht des Schreckens. Sie bereichern sich am Tod, bevor er eingetreten ist.
Ich habe mir vorhin aber nicht das Herz zugehalten, es nicht verschlossen.

Und so habe ich gesehen und gehört, was an diesem Ort in dieser Stunde auch geschehen ist. Was wir übersehen und überhören, wenn wir uns nur auf den Schrecken konzentrieren, was wir übersehen und überhören, wenn wir den Schrecken ausblenden, Augen und Ohren verschließen.
Ich habe es gesehen und gehört. Was am Rande der Geschichte geschehen ist – und doch im Zentrum, in der Mitte steht. In der Mitte zwischen: „Die Folterung begann“ und „Nun ist es vollbracht. So ist er gestorben: das Haupt gesenkt, ohne Atem.“

Atemlos ist Jesus am Ende, doch davor, da hatte er noch genug Atem, um seine vorletzten Worte zu formen. Worte voller Liebe und Hoffnung, Worte voller Vertrauen und Verantwortung, Worte voller Fürsorge und Menschlichkeit. Es gibt seine Liebe am Kreuz. Eine Liebe, die das Kreuz überdauert. Eine Liebe, die ein neues Zuhause, eine neue Heimat, eine neue Bindung schafft. Eine Liebe, die am Kreuz neu wird.

Maria und Johannes
Johannes. Der Schüler, der Jünger, der Nachfolger, den Jesus lieb hatte. Er hat sich nicht aufgedrängt, nicht in den Mittelpunkt gestellt. Er war da, nah dran, dicht bei Jesus. Oft zu Jesu Füßen gelegen, auch jetzt steht er bei Fuß.
Maria. Die Mutter, die von ihrem Sohn nicht gelassen hat, obwohl er sie doch in vielem enttäuscht haben muss. Vom Vater ist keine Rede – Jesus hat einen himmlischen Vater, der irdische spielt keine Rolle. Jetzt nicht.
Und auch andere spielen keine Rolle. Jetzt nicht.
Johannes, Maria. Maria. Johannes.

Diese zwei: Was sie wohl in diesem Moment gedacht und gefühlt haben?
In Marias Augen waren sicher Tränen. Um ihren Sohn, ja. Aber auch um den Rock. Dieses ungenähte Stück Stoff, das sie auf einem einzigen Webtuch erschaffen hatte. Vor vielen Jahren. Schön war der Leibrock, etwas Besonderes. Sie hatte diesen Jesus auf den Leib zugeschneidert. Hatte Maß genommen. Ein Kleidungsstück erschaffen, das Jesus sein ganzes Leben begleiten sollte. Vor Augen sicher ein langes Leben. Doch jetzt: Ein kurzes, zu kurzes Leben. Ein intensives Leben.
Maria erinnert sich an den ersten Fleck auf dem Rock. Sie wollte sich eigentlich aufregen. Doch sie war ja selbst schuld gewesen. Bei der Hochzeitsfeier, als der Wein ausging. Und sie Jesus um Hilfe gebeten hatte. Um ein Wunder. Auf wunderbare Weise wurde aus Wasser Wein, ein wunderbarer Tropfen. Das Wasser läuft ihr im und zusammen, wenn sie sich erinnert. „Man schenkt den besten Wein zuerst aus“, wird der Wirt angegangen, so gut ist der Wein. Als Jesus den Probeschluck nimmt, wischt er sich den Mund ab, einige Tropfen rinnen aus den Mundwinkeln auf ihren Leibrock. „Das geht nie wieder raus“, hatte sie noch gedacht, und dann gelacht: „Von diesem guten Tropfen geht kein Tropfen verloren!“ Sie nimmt selber einen Schluck, geht auf die Tanzfläche. „So ein Tag, so wunderschön wie heute, so ein Tag, der könnte nie vergehn.“ Jesus. Mein Sohn.
Maria weint. Mitten im Schrecken läuft ihr eine Freudenträne über die Wangen und sie ist glücklich, einen kurzen Moment nur. Wenn Jesus ihr jetzt in die Augen sehen könnte! Sie traut sich nicht zu Jesus zu sehen. Ihr Blick fällt auf Johannes. Auch über seine Wange läuft eine Träne.

Johannes sieht nicht, dass Maria ihn ansieht. Er ist mit seinen Gedanken woanders. Nicht hier. Am Kreuz. Er will Jesus so nicht sehen. Und er kann ihn auch nicht sehen. Denn seine Augen sind feucht. Was jetzt ist, verschwimmt, was früher war, sieht er klar. Sein Kopf ist voller Erinnerungen, an all die Geschichten, die er mit Jesus erlebt hatte. Er hat den Geruch von Verwesung in der Nase, es stinkt bestialisch hier. Johannes kennt den Geruch, der ihn einige Tage zurückwirft. Lazarus hatte auch so gestunken, drei Tage war er schon tot, als sie ankamen. „Du kommst zu spät. Jetzt kann man nichts mehr machen.“ Diese Worte erinnert er. Doch für Jesus gibt es kein zu spät. „Bei Gott ist nichts unmöglich. Habt Vertrauen.“ Das klingt in seinen Ohren. Jesus hatte ihn das gelehrt und gelebt – und er, Johannes, hat das gehört, geglaubt, erlebt. Als Lazarus sich erhob, all die Leichentücher abnahm und so nackt war, wie Jesus jetzt auch. So viel Leben in einem Toten. Das gibt es doch gar nicht. Johannes ist in seiner Erinnerung. Nicht gefangen, sondern befreit: Der Tod muss kein Ende sein. Hosianna. Johannes weint, Hoffnung schiebt sich vor die Trauer, Liebe vor den Schrecken. Dieser dunkle Moment muss nicht das Ende sein. Er spürt, wie sein Blick trüb wird. Das Schreckliche vor ihm sieht er nicht mehr klar, dafür umso klarer, umso deutlicher die Hoffnung. Sie steht ihm vor Augen. Ein Glücksgefühl überkommt ihn, einen kurzen Moment nur. Wenn Jesus ihm jetzt ins Herzen sehen könnte! Er traut sich, zu Jesus zu sehen, hebt seinen Kopf, schaut auf Jesus – und spürt in dem Moment, wie der Blick Marias auf ihn gerichtet ist. Johannes sieht auf Jesus. Maria sieht auf Johannes. Eine wunderbare Dreiecksbeziehung.
Und Jesus? Jesu Blick richtet sich auf die beiden, die Weinenden. Sie lachen, obwohl sie weinen, sie hoffen, obwohl es schmerzt, Ihr Herz zerbricht, sie lieben herzlich das Leben. Maria. Johannes. Jesus.

„Ihr Lieben“, sagt Jesus, „Meine Lieben. Meine Geliebten.“ Mutter. Sohn.
Jesus setzt Maria und Johannes in eine neue Beziehung. In Liebe und Sorge füreinander. Über den Tod hinaus. Jesus denkt ins Leben hinein. Jetzt. Am Kreuz. Zwischen Folter und Tod. Wo es allen den Atem verschlägt, hat er noch genügend Lebensluft, um Worte zu formen, die den Tod überleben.
„Mutter, das ist von nun an dein Sohn!“ „Dort! Deine Mutter!“
Was Gott zusammenfügt, scheidet der Tod nicht.

Das ist so, im vorletzten Moment. Bevor es zu Ende geht, ist Jesus am Ziel. Jesus steht der Tod vor Augen, aber er sieht das Leben, die Beziehung, den Menschen. Maria, seine Mutter. Bald Mutterseelenallein. Joahnnes. Den Liebling. Treu bis in den Tod. Jesus sieht beide, bezieht sie aufeinander. Von nun an. Dein.

Am Kreuz gibt es eine Kraft, die Liebe sät und Beziehung stiftet. Die kein Tod brechen kann, die weiter geht und weiter lebt. Gesprochen. Versprochen. Es ist vollbracht.

So geht Jesu Lebensweg zu Ende. Wer das glaubt, glaubt schon viel. Aber hofft noch nicht genug. Denn dieses Ende ist nur der Auftakt zu einem Finale. Das noch viele überraschen wird. Und bei dem noch viele Freudentränen geweint werden. Von Maria. Von Johannes. Und von vielen. Es wird auch wieder riechen, intensiv. Nach gegrilltem Fisch. Und wieder wird einer ohne seinen Leibrock nackt sein. Habt Geduld! Das Beste kommt noch! Versprochen. Denn der Friede Gottes ist wahrhaft höher als alle menschliche Vernunft und Unvernunft. Und bewahrt uns, Herzen und Sinne, im Leben, im Tod. Und weit darüber hinaus. In Jesus, dem Christus, unserem Herrn. Amen.

Bikerträume eines Christenmenschen – Impuls zum Bikergottesdienst

Liebe Bikergemeinde,
das Reich Gottes ist woanders, eine neue Welt – aber nicht hier. The promised land. Mit diesem Versprechen sind viele aufgebrochen.
„In den Rücken gefallen“ – das ist das Gefühl zur Zeit.
Es mangelt an Vertrauen.
Menschen werden ausgewiesen, sie sind sich hier nicht sicher.
Verträge werden nicht eingehalten, sie werden aufgekündigt.
Eigentlich war es anders: das ewige Reich. Vertrauen auf ewig, das gesprochene Wort gilt, wenn ich einmal dort bin, muss ich nichts mehr befürchten.
American Dream – ein Gegenentwurf zu hier.
„Ich war noch niemals in New York“
Unser Glaube: das ist nichts, was es irgendwo auf der Erde in Reinform, Das ist Illusion, das ist zerbrochen. Ein tausendjähriges Reich auf dieser Erde ist immer eine Schreckensherrschaft.
Daher: kleine Brötchen backen. Nüchterner Realismus.
Immer wieder ein Stück der Freiheit einholen, sich und anderen zugestehen, andere in ihrer Freiheit stehen lassen.
To live and let die.
Das meint es ganz konkret:
•⁠ ⁠Auch der Flüchtling, der hier ist und hier seinen Traum vom Leben wagt, darf seine Freiheit hier leben – solange er die Freiheit der anderen respektiert.
•⁠ ⁠Auch der Obdachlose, der sich entscheidet, warum auch immer, auf der Straße zu leben und durch die Straßen zu ziehen, darf sein Lebenskonzept leben – solange er die Freiheit anderen respektiert.
•⁠ ⁠Auch der Jugendliche, der sich entscheidet, sein Leben in der virtuellen Welt zu leben oder ganz anders zu sein, darf seine Freiheit leben – solange seine Freiheit nicht andere unfrei macht.
Aber wir feiern ja heute einen Gottesdienst:
Jesus steht exemplarisch für das Ende der Freiheit.
Ob er ein Freiheitskämpfer war, wissen wir nicht so genau.
Aber seine freie Art zu denken, zu leben, zu handeln, haben andere als Gefahr für ihre Sicherheit, für ihre Ordnung, für ihre Lebensvorgaben empfunden.
Es gibt die Geschichte von Maria und Martha.
So kann man doch nicht in die bewährten Rollen eingreifen. Wo kämen wir da hin, wenn alle wie Martha wären. Nur hören, kein dienen. Sich einfach an die gedeckte Tafel setzen. Und auf den hören, der einem gut tut. Jesus.
Ich verstehe, dass das Menschen Angst macht.
Wenn es auf einmal auch an
Du das Jesus, je mehr Menschen ihm folgen, desto mehr Menschen sich aufregen. Und dann kommt er mit dem Esel in die Stadt. Nicht mit einem Drahtesel, ohne den Geruch von Benzin, sondern bleifrei.
Und dann die Geschichte ihren Lauf.
Ihr kennt sie.
Verraten, verurteilt, verspottet.
Gekreuzigt, gestorben, begraben,
Und mit ihm all die träume von Freiheit, Weite, Ungebundenheit.
Das Ende aller Träume. Träume sind Schäume.

Doch halt. Jesu Traum hört nicht auf. Gott erweckt Jesu Traum neu. Gott ruft Jesus ins Leben zurück. Und mit ihm all die Erzählungen, all die Begebenheiten, all die Geschichten seines Lebens. Gleich vier Mal werden sie aufgeschrieben. Vier Biographien von einem Leben.
Das Leben geht weiter, der Traum hört nicht auf.
Ein Schatz. Aus dem wir auch heute schöpfen können.
Nicht nur auf dem Motorrad, aber auch dort.
Den Blick in den Horizont: das Leben ist weit.
Den Blick in den Himmel: das Leben ist schön.
Gott sei Dank.
Amen.

Zur Lichtgestalt werden – Feierabend komm 17.1.

Psalm  123 – Ich rechne mit Gott

Herr, ich rechne mit dir,

obwohl ich manchmal selber nicht glaube,

dass du für mich da bist.

Ich bin wie ein verlassenes Kind im Waisenhaus:

Man sagt ihm: Du hast keinen Vater und keine Mutter!“,

und doch bleibt es auf der Suche nach seinen Eltern.

Ich bin wie viele junge Leute:

Sie werden enttäuscht in dem, was man ‚Liebe‘ nennt,

und doch hören sie nicht auf,

auf die echte Liebe zu hoffen.

So vertraue ich dir:

Den ich nichtsehe, als sähe ich dich;

Den ich nicht höre, als sprächst du zu mir;

Den ich nicht erkenne – du doch spüre ich deine Nähe.

Herr, ich verlange keine Wunder,

aber gib mir die Augen, die in den Alltäglichkeiten

dein Wirken erkennen;

gib mir Gedanken, die das Alltagsgeschehen

als dein Handeln erfahren;

gib mir den Sinn, hinter den Oberflächlichkeiten

Sinn und Sinnlosigkeit zu unterscheiden.

Denn ohne deine Hilfe

kann ich nicht bestehen –

gegen den Spott der Kollegen,

gegen die Stimmung von Freundinnen und Freunden,

gegen die ‚Gott ist doch tot‘ – Meinung

und gegen das überlegene Lächeln derer, die sagen:

‚Moderne Menschen brauchen keinen Gott!‘

Gegen diese Gottlosigkeiten schütze mich.

Du drückst mich nicht nieder,

du richtest mich auf.

Gebet

Alles ist eitel, nichtig, leer.

So fühlt es sich oft an.

In meinem Leben.

In unserem Leben.

Alles ist eitel, nichtig, leer.

Wenn es sich so anfühlt,

scheint es, als hätten wir keine Wahl.

Als wäre es immer so. Eitel und nichtig und leer.

Alles ist eitel, nichtig, leer.

Das ist gottlos.

Und ja, vieles ist gottlos.

Und ja viele sind gottlos.

Sind ihren Gott, los geworden.

Alles ist eitel, nichtig, leer.

So hoffnungslos, weil so gottlos, ist es trostlos.

Doch wir suchen nach Hoffnung, nach Trost.

Und so suchen wir dich, Gott.

Nichts muss eitel, nichtig, leer bleiben.

Wenn es von dir, Gott, beseelt wird,

wenn wir von dir, Gott, begeistert werden,

wenn du, Gott, als Licht in unser Leben scheinst,

wenn du, Gott, mit einem Licht unser Leben bescheinst.

Ach, komm, Gott, komm mit deinem Licht,

mit einer Fülle, mit deiner Kraft.

Und gib unserem Leben Richtung und unserem Handeln Sinn.

Ach, Gott, du bist ja schon gekommen,

in Jesus Christus,

Licht der Welt,

Licht des Lebens,

mein Licht.

Gekommen. Um zu bleiben.

Heute und in Ewigkeit.

Amen.

Zur Lichtgestalt werden

Erzählen will ich.

Von einer Lichtgestalt.

Ich habe sie gesehen.

Zuerst aber nicht erkannt.

Sie hat einen Namen.

Tatjana.

Tatjana saß in einem Auto. In Namibia.

Vorne. Wir kamen dazu. Elke und ich.

Es ging los. Tiere beobachten.

Wir fuhren durch die Landschaft.

Sahen Zebras. Und Antilopen.

Und Adler. Und Schildkröten.

Dann hielten wir an. Alle stiegen aus.

Tatjana nicht.

Sie kann nicht alleine aussteigen.

Infantile Cerebralparese, ICP.

Ihr Diagnose.

Ihre Prognose am Lebensanfang. Schlecht.

Tatjana ist keine Lichtgestalt.

Im Gegenteil.

Sie überschattet vieles, was sich ihre Eltern wohl so erhofft haben.

Aber Tatjana kämpft.

Auf dem Internat in Südafrika.

Alleine. Behindert. In fremdem Land. Weit weg.

Sie ist einsam. Will zurück. Kommt zurück.

Will zurück zu den Eltern. Kommt zurück ins Leben.

Ihr Lebenswille: stark.

Ihr Selbstvertrauen: stärker.

Ihr Gottvertrauen: am stärksten.

Sie weiß: ich schaffe es nicht aus eigener Kraft.

Sie weiß auch: ohne eigene Kraft schaffe ich nichts.

Und so beißt sie sich durch.

Durch die Schule.

Durch das Studium.

Mit und trotz ihrer Spastik.

Mit und trotz ihren Einschränkungen.

Sie schafft, so lange, bis sie es geschafft hat.

Tatjana weiß, was sie will.

Anderen helfen. Mitten dabei sein. Das Leben genießen.

Wir lernen sie kennen.

Als sie das Leben genießt.

Vorne dabei. Im Auto.

Sie sieht sie auch.

Die Zebras. Die Antilopen. Die Adler. Die Schildkröten.

Sie sieht sie, wie wir, uns ist erfüllt.

Wir sehen das auch.

Aber wir sehen auch sie.

Und werden erfüllt.

Von ihrer Stärke, ihrer Kraft, ihrem Lebensmut.

Wir staunen:

Sie arbeitet als Förderschullehrerin in der internationalen deutschen Schule in Windhoek. Steht auf eigenen Beinen.

Sie wohnt in einem Altenheim in Windhoek. Bekommt die Hilfe, die sie braucht.

Sie robbt auf Knien durch das Klassenzimmer. Weil die Zimmer für Rollstühle zu eng sind.

Sie kümmert sich um die Schwachen. Die offensichtlich Schwächeren. Zuerst.

Und dann kümmert sie sich auch um die Starken. Die offensichtlich Stärkeren. Sieht auch deren Schwächen. Sieht auch sie an.

Selten hat mich ein Mensch so in den Bann genommen wie Tatjana.

Wie sie, trotz all dem, was das Leben ihr zugemutet hat, das Leben bewältigt.

Wie sie, trotz ihrer Einschränkung, anderen hilft, sich zu entfalten.

Tatjana ist eine Entwicklungshelferin.

In Windhoek ist eine Pfarrstelle frei. Das hatte ich gelesen.

Tatjana hätte gerne wieder einen Pfarrer.

Der mit ihnen in der Schule Gottesdienst feiert.
Der feiert, dass Gott ein Gott des Lebens ist.

Der deutlich macht: Gott ist das Licht.

Und das Licht scheint in der Finsternis.

Die Finsternis hat es nicht begriffen.

Aber Tatjana. Gott ist ihr Licht. Und ihre Kraft. Und ihr Mut.

Sie wird anderen zum Licht, mit ihrer Kraft, ihrem Mut.

Wir haben Tatjana aus dem Auto geholfen.

Ehrlich gesagt: viel Hilfe war nicht vonnöten.

Wir saßen dann da, vor dem Auto. Schauten auf den Sonnenuntergang.

Sie ein Gin Tonic. Wir ein Weißwein.

Das Leben ist schön.

Weil das Licht scheint.

Auch in der Finsternis.

Das haben wir begriffen.

Danke. Tatjana.

Wir bleiben in Kontakt.

Versprochen.

Und der Friede Gottes, höher als alle menschliche Vernunft,

bewahre unsere Herzen und Sinne.

In Jesus Christus.
Unserem Herrn.

Amen.

Wie wir zu sein haben – paulinische Impulse als Vorsatz für das neue Jahr

Predigt über Röm 12, 19. Januar 2025, Friedenskirche/Alte Kirche

Liebe Gemeinde,

stellen Sie sich einmal vor: Sie haben eine Armbanduhr. Sie zeigt ihnen die Zeit an. Sie orientieren sich an ihrer Uhr. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Die Uhr hilft ihnen: damit sie pünktlich Bahn und Zug erwischen, rechtzeitig beim Arzt sind, Vereinbarungen einhalten. Ihre Uhr gibt ihrem Leben Struktur.

Jetzt hat ihre Armbanduhr ein Problem. An jedem Tag, binnen 24Stunden, geht sie fünf Minuten nach. Sie haben sich also einen Zettel auf den Küchentisch gelegt: Uhr wieder zurückstellen. Das machen sie. Jeden Morgen. Und sind so immer pünktlich, immer rechtzeitig, zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Irgendwann aber vergessen sie den Zettel auf dem Küchentisch. Und stellen die Uhr auch nicht mehr jeden Tag richtig. Aus fünf Minuten werden zehn, fünfzehn, zwanzig. Jeden Tag sind sie ein wenig später dran. Was passiert? Zunächst ganz wenig, dann aber immer mehr. Der Bus ist schon weg, der Termin beim Arzt schon vergeben, ihre Freundin im Café verärgert, der Gottesdienst schon aus. Irgendwann wird ihre Nacht zum Tag. Sie fallen aus der Zeit, ihr Leben ist nicht mehr mit den anderen synchronisiert, sie leben in einer anderen Zeit, sind irgendwie aus der Zeit gefallen.

Was könnten sie tun – um ihrer Armbanduhr, die ihrem Leben Struktur gibt, zu vertrauen? Sie könnten ihre Morgenroutine wieder einführen. Eine Möglichkeit. Sie könnten aber auch die Uhr zum Uhrmacher bringen. Damit er die Einstellung der Uhr ändert. Damit die Uhr wieder richtig geht. Eigentlich ganz einfach.

Warum versuchen Sie nicht selber, die Einstellung der Uhr zu ändern? Nun ja, ich vermute mal, die meisten von uns können eine Uhr nur von außen einstellen – nicht aber das innere der Uhr verstehen, geschweige denn reparieren. Da braucht es schon Spezialkenntnisse. Das überfordert die meisten.

Mit der Uhr ist es einfach. Relativ gesehen. Sie drehen jeden Morgen am Rad – und dann geht es wieder eine Zeit lang. Sie bringen die Uhr zu jemandem, der sie wieder richtig einstellt – und dann geht es eine ganze Zeit lang.

Heute ist ja schon der 19. Januar. Das neue Jahr 2025 ist schon wieder fast drei Wochen alt. Vielleicht haben Sie sich etwas für dieses neue Jahr vorgenommen. Manche sind ja, nach und nach, nicht aus der Zeit gefallen, aber aus ihren Kleidern gewachsen. Jeden Tag sind nur ein paar Gramm Gewicht, jede Woche nur ein paar Millimeter Bauchumfang dazu gekommen. „Das will ich ändern!“, „Ich nehme mir vor, abzunehmen.“ Wie soll das gehen? Zunächst versuchen wir es, wie mit der Uhr. Mit kleinen Zetteln, vielleicht. „Gemüse einkaufen!“, „Nicht nachschöpfen!“, „Der Kühlschrank bleibt nach 18 Uhr zu!“, „Dry January – mein Feierabend braucht kein Bier!“ Es beginnt mit kleinen Schritten, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute kontrollieren, was von außen in mich hereinkommt. Klingt einfach. Ist es aber nicht.

Denn wie bei der Uhr kann man zwar an einigen kleinen Rädern außen drehen, aber das Problem ist oft innen. Problem von innen. Was von außen an mich herankommt beeinflusst, was von außen in mich hereinkommt. Dazu gehört dann so etwas wie Stress oder Streit, dann geht es um Frust. Oder um Leistung und Belohnung, dann geht es um Lust. Oder um Geselligkeit und Gewohnheit, dann geht es um Gemeinschaft, um Kultur.  Ehrlicherweise: das sucht man, das sucht frau sich nicht immer selber aus. Wenn sie das ändern wollen, dann geht es um mehr als um die äußeren Rädchen jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Dann müsste Mensch sein Verhalten und seine Gewohnheiten ändern, die Struktur des Lebens und die Kultur des Miteinanders ändern, die Haltung und Einstellung zum Leben ändern. Dann geht es ans Eingemachte, um das Innen. Wohin bringt sich ein Mensch dann, wenn der Körper aus den Fugen geraten ist? Wer ist denn der Uhrmachermeister für uns Menschen? Wer ist ein Therapeut für meine Seele, wer ist die Hilfe für meinen Körper. Hilft Psychotherapie, hilft Physiotherapie? Das ist schwierig, wirklich. Da braucht es oft mehr als gute Vorsätze. Da geht es ja auch um das Bild meiner Selbst, um mein Selbstbild, wenn ich meine Erscheinung ändern will.

Noch schwerer aber ist es, sich wirklich zu ändern. Nicht nur das, was ich tue. Sondern das, was ich bin, was ich fühle, wie ich urteile, wem meine Empathie gilt, mit wem ich mitfühle und wem nicht, was mich anzieht, was mich abstößt. Mein Herz, meinen Sinn zu ändern. Jetzt geht es um das Eingemachte. „Der Mensch sieht was vor Augen ist, das augenscheinliche, Gott was vor Herzen ist, das herzliche.“ Aber wie ändere ich, was Gott so herzlich bei mir sieht. Gottes Blick ist herzlich, ist das schmerzlich?

Jesus hat bei seiner Feldrede, der Bergpredigt, den Landmenschen aus Israel und Palästina ins Gewissen geredet. Das haben wir vorher gehört. „Es geht nicht um Auge und Auge, Zahn um Zahn. So entsteht kein Frieden. Es geht um Versöhnung, Vergebung. Sonst kommt ihr aus der Spirale der Gewalt niemals raus. Es geht darum, andere nicht mehr als Dummkopf, als Idioten zu beschimpfen. Sonst bleiben Menschen in Schubladen stecken, werden klein gemacht, statt groß zu werden. Wenn ihr an einen Gott glaubt – und das tun seit jeher die meisten Menschen in dieser Region, dann ändert euch: Betet für die, die euch verfolgen. Euer Ja sei ein Ja. Euer Nein sei ein Nein. Wenn ihr einen Friedensvertrag schließt, macht es einfach und klar. Das hat Jesus gesagt. In einer Region, wo schon immer viele Religionen und Kulturen sich um das Land gestritten haben. Eine Rede an die Landmenschen.

Nun sind wir keine Landmenschen, sondern Stadtmenschen. Und nicht wie die Zuhörer Jesu ganz in der Welt des Alten, des Ersten Testaments zu Hause. Wir haben nur wenige Orthodoxe unter uns – die haben es in der Stadt oft schwer. Woran sollen wir uns orientieren?

Hier hilft, welch ein Wunder, der Apostel Paulus. Er schreibt an die Gemeinde in Rom. Und wie fast immer in seinem Schreiben an Stadtmenschen, in den Briefen nach Korinth, nach Ephesus, nach Thessalonichi, nach Rom schreibt er den Stadtmenschen etwas ins Stammbuch. Etwas von dem, wie es aussehen soll, wenn Gottes herzlicher Blick nicht schmerzlich ist, sondern sein Wohlgefallen findet.

Paulus also, Gottes herzlicher Briefschreiber, an die Christen in Rom. Paulus, der Apostel, von Gott gesandt, um Gottes herzliches Sehen den Menschen nahe zu bringen. In Rom sind die Christen eine Minderheit. In der Stadt herrscht eine große Vielfalt. Dort leben viele Ausländer, sie sind gekommen und geblieben. Denn dort gibt es Wohnung, Arbeit. Dort gibt es Lebensmittel und Handel. Es ist einfacher, in der Großstadt zu überleben als in einem kleinen Dorf. Erst recht als Fremder. Aber das Zusammenleben ist recht schwierig. Es gibt viele Ordnungsprobleme, also auch viel Ordnungsdienst. In der Stadt leben viele mit- und nebeneinander. Arme und Reiche. Gesunde und Kranke. Einheimische und Aushausige. Auch das religiöse Zusammenleben ist bunter. Es gibt nicht das gemeinsame, eine, alte Testament, mit Regeln, die alle kennen. Es ist, schlicht und einfach, unübersichtlich.

Paulus hat einen Auftrag, uns ein Ziel. Er will, dass die kleine christliche Gemeinde groß rauskommt. Er will, dass sie herausragend sind. Erkennbar. Erkennbar anders. Macht es euch nicht einfach. Macht euch nicht einfach gleich. Seid eine Elite. Seid Gottes Bodentruppe.

Paulus legt die Messlatte für die Stadtmenschen hoch. Ganz wie Jesus die Messlatte für die Landmenschen hochgelegt hat. Bergpredigt dort, Römerbrief hier.

Eure Liebe soll aufrichtig sein. Verabscheut das Böse. Haltet am Guten fest. Liebt einander herzlich. Übertrefft euch gegenseitig an Wertschätzung. Lasst euch vom Geist anstecken, seid einfach begeistert. Freut euch, dass ihr Hoffnung habt. Bleibt standhaft, wenn ihr leiden müsst. Hört nicht auf zu besten. Helft Menschen in Not. Seid jederzeit gastfreundlich. Segnet die Menschen, die euch verfolgen. Segnet, verflucht nicht. Freut euch mit den Fröhlichen. Weint mit den Weinenden. Seid auf Einigkeit aus. Werdet nicht überheblich. Lasst euch auf die Unbedeutenden ein. Baut nicht auf eure eigene Klugheit. Vergeltet nicht Böses mit Bösem. Habt anderen Menschen gegenüber nur Gutes im Sinn. Lebt mit allen Menschen in Frieden – soweit das möglich ist und an euch liegt. Nehmt nicht selbst Rache. Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse mit Gutem.

Paulus Worte sind einfach. Und klar. An die Stadtmenschen. Wenn alles kompliziert ist, braucht es einfache, klare Ansagen. Und jetzt geht es darum, dass in das Leben jedes und jeder Einzelnen und in das Leben der christlichen Gemeinde insgesamt zu ziehen. Damals, in Rom, da gab es noch keinen einzigen Kirchturm. Aber heute, da gibt es viele. Nicht nur in der Stadt Rom. Und diese Kirchtürme zeigen doch: Seht her, ihr Menschen: hier ist etwas hervorragendes, etwas herausragendes, hier ist Gottes Gemeinde mitten in der Stadt. Mit großem Anspruch: Frieden. Erlösung. Hoffnung. Mit großem Namen: Paulus. Luther. Christus.

Wir stehen hier, als Gemeinde, mittendrin. Sind auch nicht mehr als damals. Als Paulus geschrieben hat. Und stehen vor einer großen Aufgabe. Als getaufte, gesegnete Menschen herauszuragen, hervorzuragen mitten in der Stadt. Wie das geht – Paulus hat es uns Stadtmenschen ins Stammbuch geschrieben.

Aber konkret? Gott will uns herzlich gerne helfen. Ganz einfach. Jesus sei meine Freude. Bleibt unermüdlich, auch im Gebet miteinander und füreinander. Bleibt in Beziehung, im Austausch, feiert miteinander Abendmahl. Erinnert euch: Gott hat sich für dich gegeben. Seid demütig. Bleibt bereit, euch zu korrigieren, auch untereinander. Geht freundlich auch mit den Schwächen des anderen um.

Paulus weiß: das ist kein Vorsatz für ein Jahr, sondern erfordert lebenslangen Einsatz. Es ist keine Kurzstrecke. Es ist nicht mit guten Vorsätzen getan. Es braucht lebenslang die Arbeit an sich und seinen Einstellungen. Christsein ist ein herausfordernder Langstreckenlauf. Die Stadtmenschen, die den Brief des Paulus gelesen haben, haben das verstanden, und ihn immer und immer wieder gelesen und vorgelesen, ihn kopiert, weitergegeben, überliefert, übersetzt. Wir können seinen Brief immer noch lesen – und uns immer noch an ihm orientieren.

Aber warum eigentlich?

Nun ja. Wenn wir die Uhr wieder einstellen, fallen wir nicht mehr aus der Zeit. Wenn wir uns neu einstellen mit dem, was von außen in uns hereinkommt, bleiben wir in Form und hoffentlich auch gesund. Wenn sich die Landmenschen in Israel und Palästina an der Bergpredigt orientieren, ist Freuden möglich.

Und wenn wir uns, als Einzelne, als Gemeinde, als Kirche an Paulus orientieren, dann winkt uns ein hoher Siegpreis, ein enormes Preisgeld? Versprochen. Das Leben. In Fülle. In Ewigkeit. Der Friede Gottes. Mehr als wir uns vorstellen können. Wir bleiben bewahrt, herzlich und sinnlich, in Jesus Christus. Unserem Herrn. Amen.

Jetzt könnte Schluss sein. Aber halt. Einen Gedanken habe ich noch. Ich war jetzt im Urlaub. In einer großen Stadt. Ohne große Kirchen in der Mitte. Aber mit einem großen Gefängnis. Mitten in der Stadt. Zum Glück ein ehemaliges Gefängnis. Ich war in Johannesburg. In diesem Gefängnis saß einst Nelson Mandela. Wie so viele schwarze Menschen. Willkürlich eingesperrt. Unter furchtbaren Bedingungen. Dieser Nelson Mandela hat sich an Jesus und an Paulus orientiert. Und hat etwas herausragendes geschaffen. Einen friedlichen Übergang. Das Ende der Apartheid. Eine Versöhnung mit der Geschichte. Einen Macht- und Herrschaftswechsel. Mandela hat gezeigt: Es geht. Man kann mit der Bergpredigt und mit dem Römerbrief Politik machen, Gesellschaft gestalten.  Es sind aber nicht nur groß gewachsene Männer, sondern auch die kleinen Frauen. Im Urlaub habe ich viel von ihnen gelesen. Von Angela Merkel, die unser Land lange regiert hat, eine ostdeutsche Frau ganz vorne. Und eine Frage der Chemie, von einer bemerkenswerten Frau. Und Pi mal Daumen, von einer Mutter und Großmutter, die sich traut, in fortgeschrittenem Alter Mathematik zu studieren. Es sind Lesefrüchte aus dem Urlaub. Falls Paulus zu unkonkret ist, es gibt viele Bücher, wo wir konkret nachlesen können, wie herausragendes, hervorragendes geschehen kann. Damals wie heute. im Urlaub. Der Buchhändler ist unter uns. Sicher hat er auch gute Tipps, was wir jeden Tag lesen können, oder einander vorlesen oder uns vorlesen lassen. Damit es klappt, dass wir miteinander wachsen und reifen. Was damals möglich war, in Rom, warum sollte das nicht wieder und wieder möglich sein? Das Jesus uns herzlich ansieht und wir ihn. Jesu meine Freude. Nun aber. Amen.

Falk Schöller, Citykirche Krefeld

Aus dem Vollen schöpfen – welch ein Wunder!

Impuls zu den Wundern im Johannesevangelium – Feierabend komm!

Ihr Lieben,
habe ich euch eigentlich schon gesagt, dass ich Wunder liebe?
Nicht diese großen Wunder, für die man weiß Gott was braucht.
Sondern die kleinen Wunder.
Für die man nichts braucht, außer einen ganz wunderbaren und wundervollen Glauben.
Das aus etwas ganz gewöhnlichem etwas ganz außergewöhnliches geschieht.
Eine solch wunderbare und wundervolle Geschichte haben wir schon gehört.
Aus Waschwasser wird Wein.
Aus den Krügen, aus denen sonst das Wasser zur Reinigung fließt, fließt jetzt der Wein.
Und was für einer. Ein ganz wunderbarer Wein.
Sage nicht ich. Sagt der Kellermeister.
Und der muss es wissen. Der Weinkenner.
Unglaublich. Sagt er. Ein wunderbarer Wein aus Waschwasser.
Nicht zu glauben, glauben Sie?
Glauben sie mir, es geht noch besser.
 
Eine Stadt, ein Feld, ein Brunnen.
Dazu der Mann, Jesus, der sich, von der Reise ermüdet,
auf den Brunnenrand setzte,
Mittagszeit. Er allein.
Da kam eine Frau aus Samarien auf ihn zu,
um aus dem Brunnen Waser zu schöpfen.
„Gib mir zu trinken.“
„Wie?“, fragte die Frau. „Du – ein Jude! –
bittest mich, die ich aus Samarien bin,
um einen Schluck Wasser.
Weißt du nicht, dass es keine Gemeinschaft
zwischen Juden und Samarien gibst.
Da sagte Jesus zu ihr: „Wenn du – nur du – erkennst,
was Gott dir schenken will,
wenn du – du aus Samarien! – wüßtest,
wer der Jude ist, der zu dir sagt: ‚Gib mir zu trinken‘
du tauschtest unverzüglich die Rollen, bätest den Juden:
‚Gib mir zu trinken‘,
und er gäbe dir Wasser aus einer Quelle,
das rein uns klar ist – lebendig!“
„Das ist unmöglich“, sagte die Frau, „du hast keine Kelle
und keinen Strick, an dem du sie herablassen kannst.
Der Brunnen ist tief – weit unten das Wasser,
lebendig, wie du sagst, aber du kannst es nicht schöpfen.
„Wer vom Wasser dieses Brunnens trinkt“, sagt Jesus,
„ist rasch wieder durstig.
Wer aber das Wasser kostet, das ich ihm schenke,
wird eine Quelle werden,
die sich tief im Innern bewegt
und unentwegt flutend das ewige Leben verbürgt,
dem es entgegenströmt.“
 
Ist das, Ihr Lieben,
nicht wunderbar und wundervoll.
Das erste Wunder, bei der Hochzeit. Der Wein geht zur Neige.
Das Fest wäre aus. Nichts ginge mehr. Rien ne va plus.
Alle wären blamiert, beschämt.
Und Jesus? Wasser wird zu Waschwasser. Normalerweise.
Jetzt wird Wasser zu Wein.
Das Fest geht weiter. Alle sind fröhlich.
Wunderbar und wundervoll.
Es braucht nur Wasser – und einen wunderbaren Glauben.
Das nichts ist, wie es scheint.
Alles ist möglich, dem der glaubt.
 
Ist das, ihr Lieben,
nicht wunderbar und wundervoll.
Das zweite Wunder, am Brunnen. Mittagshitze.
Der Brunnen tief, Jesus kann nicht schöpfen.
Die Frau aus Samarien, sie darf nicht schöpfen.
Nicht für einen Mann, nicht für einen Juden.
Miteinander reden ist verboten, jedes Wort zu viel.
Doch dann: ein Wortwechsel.
Ohne Scheu. Ohne Scham.
Die Worte der Frau: bestechend und einfach.
Ohne Kelle kein Wasser.
Die Worte Jesu: bestechend und einfach.
Lebendiges Wasser. Einmal getrunken. Für immer genug.
Das Wunder: die Quelle ist, auf einmal, in dir.
Die Quelle: du selbst.
Aus der kannst du schöpfen.
 
Wasser und Wort – so einfach sind Wunder möglich.
Alles ist möglich, dem der glaubt.
Jesus glaubt Gott.
So sehr, dass zwischen ihn und Gott kein Blatt passt.
So sehr, dass Jesus und Gott gleich scheinen.
Jesus, Mensch Gottes, Gottes Mensch.
Wie wunderbar. Wie wundervoll.
 
Ich bin begeistert. Und möchte auch so aus dem Vollen schöpfen.
Wasser reicht. Und Worte.
Und dann sind Wunder möglich. Glaube mir. Das reicht.
Um das Leben zu feiern – und die Liebe.
Um das Leben zu teilen – und die Hoffnung.
 
Weniger ist mehr. Wir hören heute Klavier. Seht doch, wie einfach.
Es ist nur schwarz und weiß. Weiß, schwarz, weiß, schwarz, weiß, weiß, schwarz.
Es ist nur schwarz und weiß. Und doch so wunderbar.
Wenn man das Weiße und das Schwarze in der richtigen Reihenfolge, im richtigen Rhythmus, im richtigen Anschlag spielt.
Wie wunderbar. Wie wundervoll.
 
Und der Computer. Da ist alles nur Null und Eins. Eins und Null.
Wenn man die Eins und die Null nur in eine richtige Reihenfolge bringt, dann ist alles möglich.
Wie wunderbar. Wie wundervoll.
 
Überhaupt ist wundervolles oft ganz einfach. Braucht nicht viel.
Aus einem Pinselstrich schafft Picasso Kunst.
Ein blaues Quadrat auf weißer Leinwand. Große Kunst.
Bauhaus. Einfache Prinzipien, klare Ordnung. Wunderbar einfach. Einfach wunderbar.
Ein Restaurant in der Vendée. Der Fisch frisch auf den Tisch.
Wunderbar einfach. Einfach wunderbar. Drei Sterne. Weltklasse.
Ganz einfach. Braucht nicht viel. Wunderbar. Wundervoll. Wunder sind einfach.
 
Weil es einfach wundervoll ist, schrecken Mächtige davor zurück.
Machen es kompliziert. Und schwierig.
Vor dem Einfachen haben sie Angst.
Vielleicht haben wir deshalb auch Angst vor Donald.
Der es sich einfach macht.
Der Krieg. Ein Ende. Ist einfach. Wäre ein Wunder. Aber mit Macht geht es einfach nicht.
Wenn es nicht einfach geht, machen Mächtige einfach dem Einfachen ein Ende.
Nennen es entartet. Verbieten es. Einfache Wunder wollen sie nicht.
Nennen Menschen Illegale. Menschen mögen sie einfach nicht.
Vielleicht haben wir deshalb auch Angst vor Donald.
Weil er wunderbar einfache Menschen nicht mag.
Angst auch vor Alice. Die wäre gerne im Wunderland.
Aber wir würden mit ihr nur ein blaues Wunder erleben.
Menschen mag sie einfach nicht. Das ist in Deutschland illegal.
Ihr Wunderland ist einfach nicht schön.
Lasst sie in Deutschland nicht regieren.
Das wäre hässlich. Führt aus Hass zum Hass.
Hass ist kein Wunder.
 
Doch zurück zum Schönen. Zum wunderbar Einfachen.
Zu den Wundern, für die es nicht mehr braucht. Als Wasser. Als Worte.
Wenn beides zusammenkommt, wunderbar.
Ich taufe dich. Auf den Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes, des Geistes. Amen.
Ihr Lieben. Das gilt. Euch.
Du bist getauft. Mit Wasser und Wort.
Ab jetzt, Achtung. Ich verrate ein wunderbares Geheimnis.
Dir ist alles möglich.
Wenn du glaubst.
Wunder geschehen.
Wir hören diese Wunder, schwarz auf weiß, heute.
Schöpfen mit den Tasten aus dem Vollen.
Danke für die wunderbare Musik.
 
Wir sehen diese Wunder.
Nur kurz. Da ist mein Vater. Er sah schlecht. Grauer Star.
Eine Operation. Ganz kurz nur. Und dann eine Verwandlung.
Er sieht gut. Wie ein Star.
Wunder geschehen.
Danke für die wunderbare Medizin.
 
Wir hören diese Wunder.
Am Telefon. Eine Frau verzweifelt. Ein Wortwechsel, am Ende einer langen Sitzung, und sie ist am Ende. Sie will an diesem Arbeitsplatz nicht bleiben. Sie muss an diesem Arbeitsplatz bleiben. Sie ist alleinerziehend. Braucht das Geld.
Ich höre mir ihre Worte an. Dann antworte ich:
„Ich habe dich gehört. Was für eine Frage soll ich dir stellen – damit du nicht länger verzweifelt bist?“
Sie schweigt.
Dann sagt sie: „Was muss sich ändern, damit ich hier nicht länger am Ende bin?“
Und dann sprudelt sie los.
Sie weiß es, genau, aber sie hat die Quelle in sich nicht gefunden.
Bis jetzt. Jetzt aber findet sie Worte, gewinnt sie ihre Fassung wieder, die Ohnmacht löst sich auf, gibt es Wege aus der Sackgasse.
Am Ende. Erleichterung. Kraft. Lösung. Nächste Schritte. Sie sieht jetzt klar, wo sie vorher nur die Sackgasse, das Ende gesehen hat. Erst ohne Ausweg. Das ist jetzt aus. Weg.
Wunder geschehen.
Danke für das wunderbare Gespräch.
 
Wenn es so einfach ist, warum braucht es dann Jesus?
Um aus Waschwasser Wein zu machen.
Um die Quelle zu entdecken, aus der wir aus dem Vollen schöpfen können.
Um zu sehen, wie es, ganz einfach, wunderbar und wundervoll sein kann.
Ich bin getauft. Auf seinen Namen.
Das ist einfach so wunderbar, weil die Quelle in mir ist, weil ich selbst zur sprudelnden Quelle werden kann, weil auch durch mich wunderbares und wundervolles geschehen kann.
 
Das ist uns verheißen. Zugesagt. Versprochen.
Ich bin sicher: Wunder geschehen. Unter uns. Ganz einfach.
Es braucht nur Ohren, zu hören,
und Worte, zu sagen.
Gott traut uns das zu.
Ist Mensch geworden. Ist Wort geworden.
Ist unser Mensch, unser Wort geworden.
Glaubst du das?
Wenn ja, auch das wunderbar, wundervoll.
Schöpfen wir daraus.
Heute und alle Tage. Amen.
 
 
Gebet
Gott, wir sind getauft. Einfach mit Wasser. Mit einfachen Worten.
Du bist die Quelle des Lebens. Du bist du bist die Quelle unseres Lebens. Aus dir schöpfen wir, Tag für Tag.
 
Aus dir, Gott, schöpfen wir, das rechte Wort zur rechten Zeit.
Mit dem sich Wege auch aus Sackgassen eröffnen, das Festgefahrenes löst, das Trauer in Freude verwandelt. „Fürchte dich nicht. Ich bin bei dir. Ich löse, was dich gefangen hält. Du bist frei.“
Aus dir, Gott, schöpfen wir, aus deinen Worten, das rechte Wort zu rechten Zeit.
Wir bitten dich:
Gib uns die richtigen Worte für die Menschen, die auf ein gutes Wort angewiesen sind. Ich denke an Menschen, die eine schlechte Nachricht empfangen haben. Ich denke an die Menschen, die sich guten Nachrichten verschließen. Ich denke an Menschen, bei denen Worte vieles zerstört haben. Ich denke an Menschen, deren Worte vieles zerstören.
Gott, wir vertrauen auf dich und dein Wort. Lass uns aus dem Vollen schöpfen.
 
Aus dir, Gott, schöpfen wir, das rechte Wort zur rechten Zeit.
Jesus hat gesagt: In der Welt habt ihr Angst.
Und wahrlich, es ist vieles zum Fürchten in diesen Tagen.
Ich spüre, wie sich die Furcht ausbreitet, auch auf unseren Straßen, auch in unseren Städten. Wir sind uns nicht mehr sicher.
Manchmal suchen wir nach einfachen Losungen, einfachen Parolen, einfachen Lösungen. Als ob es dann einfach besser würde.
Jesus hat gesagt: In der Welt habt ihr Angst. Die Angst gehört zum Leben, das hat er gesagt. Und doch war das nicht das letzte Wort.
Seit getröstet und seid getrost: ich habe die Welt überwunden.
Wir bitten dich: Wo immer es Grund gibt, sich zu fürchten, wo immer Furcht und Schrecken sich ausbreiten, wo immer Menschen in fürchterlichen und schrecklichen Lebenslagen sich befinden: gib uns ein Wort, das tröstet. Gib uns das Wort, das aufrichtet. Gib uns das Wort, das Zuversicht auslöst. Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn. Alle Träume werden wahr.
 
Gott, du hast gesagt: Wir werden sein wie die Träumenden. Gib uns heute schon den Traum, dass wir aus deiner unerschöpflichen Quelle schöpfen. Lass uns hoffen und vertrauen, glauben und lieben. Heute und alle Tage. Amen. 

Nachlese zum Weihnachtsoratorium

Geistlicher Impuls für den RC Düsseldorf

Pfarrer Falk Schöller, 15. Dezember 2024

Liebe rotarische Familie,
nach Gesprächen, nach gemeinsamen Erlebnissen, nach Beratungen verfasse ich gelegentlich
Nachlesen. In einem Mail verdichte ich meine Eindrücke – verdichten im doppelten Sinn. Ich
komprimiere, fasse zusammen, und ich verdichte, fasse in Sprache, in Worte, was mir nachgängig als
besonders und als wichtig in Erinnerung geblieben ist.
Bei Rotary ist das mein Amt, als Schriftführer. Aber es ist auch mein Beruf, als Schriftgelehrter. Ich
habe einst gelernt, das nachzulesen, was andere geschrieben haben, und auch nachzuspüren,
welche Erlebnisse und Erfahrungen dem Geschriebenen zugrunde liegen. Um daraufhin dies neu in
Worte zu fassen, in eigene Worte – eine Übersetzung und Übertragung. Manches Mal geschieht dies
auf der Kanzel, dann lese ich meine Auslegung vor und trage so den alten Text in neuer Form zu
Menschen, die hoffentlich zuhören. Manches Mal geschieht dies in Protokollen oder Mails, dann
lesen Menschen, die hoffentlich aufmerken und verstehen.
Heute will ich eine kleine Nachlese wagen zu dem, was wir eben gehört haben. Zum
Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Er hat verdichtet und vertont, was ihm beim
Nachlesen und Nachspüren der Weihnachtsgeschichte wichtig geworden ist. Vor knapp dreihundert
Jahren ist das WO entstanden, in gut dreihundert Kilometer Luftlinie ist es 1734 in Leipzig
uraufgeführt worden. Eindrucksvoll dazu auch der neue ARD-Spielfilm, Bach – ein
Weihnachtswunder, diesen Mittwoch, 20.15 Uhr in der ARD und schon jetzt und jederzeit in der
Mediathek.
Doch zurück zum Gehörten, Erlebten, Erspürten eben in der Johanneskirche.
Was ist unserer Erinnerung würdig – was erinnere ich, in jedem Fall?
Um Menschen in ihrem Alltag zu unterbrechen – die kürzeste Definition von Religion ist nach
Johann Baptist Metz Unterbrechung – um eine solche Unterbrechung zu erreichen und unsere
Aufmerksamkeit zu gewinnen, braucht es Pauken und Trompeten. Dem Anfang des
Weihnachtsoratoriums liegt ein besonderer Zauber inne. Paukenschläge und Trompetenfanfaren
sind die Ouvertüre, der Auftakt, mit dem wir eingestimmt werden. Um sofort aufgefordert werden,
sich ganz und gar auf das Geheimnis der Weihnacht einzulassen. Jauchzet. Frohlocket. Auf. Preist die
Tage, Rühmt, was heute der Höchste getan.
Das entscheidende Wort dabei ist „heute“. Heute ist Weihnachten. Gottes Handeln ist kein
vergangenes Geschehen, sondern ganz und gar gegenwärtig. Heute, heutzutage, handelt Gott hier
an dir. „Lasst das Zagen. Verbannt die Klagen.“ So stimmt Weihnachten. So stimmt uns
Weihnachten. Frohlocken. Das ist Freude in ihrer unübertrefflich gesteigerten Form. Und dies wird
wieder und wieder wiederholt. Das einmalige Geschehen in Bethlehem wird wieder und wieder in
unsere Gegenwart, in unser Leben, in unsere Gestimmtheit geholt. „Tönet ihr Pauken. Erschallet ihr
Trompeten.“ Lasst euch unterbrechen!
So weit der Auftakt. So weit einmal vorab. Schon vor Weihnachten drang heute an unser Ohr, wie
wir Weihnachten feiern. Der Heilige Abend, die Heilige Nacht – jetzt sind sie eingestimmt auf das
Christfest. Für uns, die wir des Wartens unfähig geworden sind, wird es vorweihnachtlich
weihnachtlich. Unterbrechen wir also, um zu frohlocken. Weihnachtseros pur.
Auf diesen Paukenschlag zu Beginn folgt ein Rezitativ. Bach erinnert an die biblische Geschichte,
setzt sie nicht als bekannt voraus, sondern ruft sie in Erinnerung. Solche Erinnerung ist notwendig,
gerade wenn der geistige Grundwasserspiegel sinkt und die Grundlage des Glaubens in
Vergessenheit zu geraten droht. „Es begab sich aber zu der Zeit.“
Nun sind wir also wachgerüttelt und erinnert. Was hat der Höchste getan. Aber was hat er uns
getan? Es folgt die erste Arie kommt. Arien sind im Weihnachtsoratorium die Momente der
Innerlichkeit, des Nachklingens und Nachspürens. Das äußere Geschehen wird ins innere Erleben
verlagert, hineingezogen. Eine Übersetzung, Überführung, Übertragung vom Ohr ins Herz. „Bereite
dich, den Liebsten bald bei dir zu sehen.“ Das ist ein Liebeslied. „Noch ist Gott nicht bei dir
angekommen, noch bist du dazu nicht bereit.“ Das weiß Bach. Er kennt uns. Und er weiß auch, dass
nur die Liebe stark genug ist, um uns wirklich zu verändern. Ein Liebeslied erklingt also, dringt an
unser Ohr. Begleitet von der Oboe d’amore. Bereite dich vor – ein innerliches, intimes, zärtliches,
liebliches Geschehen. „Bereite dich. Eile dich. Deine Wangen müssen heute viel schöner prangen.“
Bach beschreibt die Liebe zu Gott als eine echte, erfahrbare, persönliche Liebe. Glaube ist eine
Herzensangelegenheit, zuallererst. Gott ist Person – wird Mensch, und kommt so aus dem
abstrakten einer höheren Macht („der Höchste“) in ein konkretes Gegenüber („den Liebsten“). Es
geht, um es in frommer Sprache zu fassen, um die persönliche Beziehung zu Jesus, dem Christus.
Der für mich, mit mir, um mich ist, in guten wie in schlechten Tagen. Das Weihnachtoratorium ist
wie eine Einladung zum Hochzeitsfest, zu meiner Hochzeit mit Jesus. Das klingt für heutige Ohren
seltsam, romantisch, idealistisch – aber so bekommt der Glaube einen eigenen Platz, ist nicht Moral
oder Verstand, sondern eine eigene Provinz im Gemüte. (F.D.E. Schleiermacher)
Doch Bach weiß auch, dass wir als Einzelne nicht nur gefordert, sondern überfordert wären, würde
Weihnachten nur ein privates, individuelles Fest sein. Glaube geht nur in Gemeinschaft. Deswegen
folgt auf das intime Du der Liebesarie das stimmungs- und stimmenvolle Wir der Gemeinde, der
Choral. „Wie soll ich dich empfangen? Wie begegne ich dir?“ Wir sind alleine nicht in der Lage, das
Weihnachtsgeheimnis zu erfassen. Und so erhebt sich der Gemeindechoral, der volle Klang der
Gemeinschaft. Aber nicht in Selbstwirksamkeitsüberzeugung, sondern im gemeinsamen Fragen,
mehr noch im gemeinsamen Bitten. An Weihnachten erleuchtet zu werden, von Gottes Ankunft
mitten unter uns berührt zu werden – das ist nicht menschliche Möglichkeit, sondern liegt allein in
Gottes Hand. „O Jesu, Jesu, setze mir selbst die Fackel bei, damit was dich ergötze, mir kund und
wissend sei.“ Gemeinsam zu bitten, dass Gott mit seiner Liebe, seinem Frieden, seiner Schönheit
unter uns ist, dazu singt die Gemeinde gemeinsam den Choral. Und alle stimmen ein, in die
vertraute Melodie.
Die vertraute Melodie ist dieselbe, auf die „O Haupt voll Blut und Wunden“ gesungen wurde. Krippe
und Kreuz gehören zusammen. Weihnachten, Karfreitag und Ostern sind untrennbar ein und
dasselbe Geschehen. So hat auch die düstere Seite des Lebens, der conditio humana, ihren Platz,
klingt an. Es ist nicht naive Glückseligkeit, eine Weltflucht, sondern eine gereifte Freude, Folge von
Gottes Weltsucht: Gott kommt zu uns auf diese Welt, so wie sie ist. Göttlicher Realismus führt zu
menschlichem Idealismus: eine andere Welt ist möglich.
Lohnend wäre nun ein Durchgang durch da ganze Weihnachtsoratorium, doch das würde eine
verdichtete und verdichtende Nachlese sprengen. Es sind ja noch ein paar Tage bis zum Heiligen
Abend – an Stunden und Tagen mangelt es nicht, dass wir selber nachlesen, was wir gehört haben.
Um dann, wenn es so weit ist, in das Jauchzet, frohlocket erneut einzustimmen.
Ein letzter Gedanke sei mir noch erlaubt. Ein kleiner, fast unscheinbarer Einschub in einem Rezitativ
aus dem fünften Teil, gedacht für den Sonntag nach Neujahr, sei für das neue Jahr uns mitgegeben,
auf dass es uns das ganze Jahr trage.

„Wohl euch, die ihr dies Licht gesehen.
Es ist zu eurem Heil geschehen.
Mein Heiland, du, du bist das Licht,
das auch den Heiden scheinen sollen,
und sie, sie kennen dich noch nicht,
als sie dich schon verehren wollen.
Wie hell, wie klar muss nicht dein Schein,
geliebter Jesu, sein!“

Es ist uns an Weihnachten eine Wohltat geschehen. Zu unserem Heil. Heil meint, als Übersetzung
des hebräischen Schalom, eine umfassende Wohlordnung, ein alles umspannender Friede, der
Menschen und Tieren, der ganzen Schöpfung gilt. Und der auch in all unsere Beziehungen
einstrahlt, in die Familien- und Freundeskreise. Ein Friede, der aller Welt gilt. Das Geheimnis von
Weihnachten erschließt sich dem, der es universal denkt. Nicht als etwas, das bloß auf die eigene
Konfession, das eigene Bekennen, auf die eigene Religion, die eigenen Wurzeln, zurückweist und bei
sich und den Seinen bleibt. Das Gegenteil ist wahr: Das Geheimnis, dass Gott Mensch wird, um uns
und alle zu erlösen, um wirklich allen Menschen und Geschöpfen den Frieden, den Schalom zu
bringen, ist universal, gilt dem ganzen Universum.
Im Namen Gottes also: Friede mit dir. Friede mit euch. Friede allen, allerzeiten und allerorten. Ein
solcher Glaube ist keine Engführung, sondern eine Führung in die Weite, in den Horizont des
offenen Himmels. Das haben wir gehört. Wollen wir es glauben. Um dann das Glück in der höchsten
Form zu erleben: Jauchzet! Frohlocket! Auf preiset die Tage. In diesem Sinne also, so sei es. Mit
einem Wort: Amen.
Pfarrer Falk Schöller

Barmherzig wie Nikolaus

Impuls zum 6. Dezember – barmherzig wie Nikolaus

Haben Sie etwas geerbt? Geld oder Gut? Güter und Güte?
Wenn sie etwas geerbt haben, dann meistens beides.
Materie, Materielles. Ein Haus, ein Grundstück. Ein Vermögen.
Aber auch Immaterielles. Das Vermögen, etwas aus sich zu machen.
Talent. Im Griechischen doppeldeutig.
Ein Talent. 60 Kilogramm. Aus Gold oder Silber. Ein Vermögen.
Ein Talent. Eine Begabung. Aus der Gold oder Silber entstehen kann. Ein Vermögen.
Ein Talent ist immer ein Potenzial.
Ich kann etwas daraus machen.
Talent und Talent, materiell und immateriell, gehen sehr oft zusammen.
So sagen es die Sozioökonomen. Die haben das untersucht.
 
Talente zu erben, zu bekommen, zu haben, das hat sich keiner verdient.
Aus seinen Talenten etwas zu machen, das dient anderen.
Aus seinen Talenten nichts zu machen, das dient anderen nicht.
 
Keine Talente zu erben, nicht zu bekommen, nichts zu haben, das hat keiner verdient.
Aber das gibt es.
Keine Talente zu haben, nichts zu haben und nichts aus sich zu machen.
Das gibt es. Leider.
 
Von einer ganz talentfreien Familie will ich erzählen.
Sie hat nichts. Und sie kommt zu nichts.
Das Leben ist hart. Das Klima ist hart.
Trocken geblieben ist der Boden. Dürre Zeiten.
Trocken geblieben ist der Verstand. Dürre Zeiten.
Vor lauter Dürre haben viele ihren Dienst eingestellt.
Landwirte. Lehrer.
Das Leben verdorrt.
Die Familie hat leider kein Talent, etwas aus dieser Situation zu machen.
Die Familie hat leider keine Talente, um sich aus dem Staub zu machen.
Und so bleiben sie. Not gedrungen. Ein Vater, eine Mutter, drei Töchter.
 
Um zu überleben, übergeben sich drei Töchter an einen, der das verkauft, was sie haben. Ihre Körper. So überleben sie. Aber es ist ein Elend.
 
Da kommt einer, der hat viele Talente. Gold und Gut. Er hat, weiß Gott, genug. Er kommt mit einem Schiff, voll beladen. Das Schiff legt in Myra an. Ein Zwischenstopp nur. Er hält an, steigt aus. Und er sieht die Armut, das Elend. Mit seinem Gold kann er sich hier alles kaufen. Mit seinem Gold kann er sich hier alle kaufen. So groß ist das Elend.
 
Er vertraut darauf, dass er aus seinen Talenten etwas machen kann. Dass er genug ist, um aus sich genug zu machen. Und so verzichtet auf die Talente, die er abgeben kann. Auf das Gold. Drei Goldklumpen hat er. Und in einer dunklen Nacht wirft er die Goldklumpen in die Wohnung der armen Familie. Eins, zwei, drei. Nun hat er keine Talente mehr, für die er sich alles kaufen kann, sondern nur noch die, die er entwickeln kann. Er hat verzichtet, alles zu kaufen, was es gibt, Gott sei Dank. Viele Männer, die meisten, hätten es anders gemacht. Aber er kauft nicht, er schenkt.
 
So haben die, die kein Talent hatten, nun Talente. Und können das Leben anders leben. Sie können jetzt etwas aus sich machen. Sie müssen sich nicht länger verkaufen. Sie können sich kaufen, was sie brauchen. Lebensmittel – Mittel zum Leben. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Sondern auch vom Wort, von der Bildung. Und so nutzen sie die Talente, die sie bekommen haben.
 
Der seine Talente so verschenkt hat, das war Nikolaus. So wird es erzählt. Der seine Talente so entwickelt hat, das war Nikolaus. So wird es erzählt.
 
Mit seinen Talenten trägt er dazu bei, dass sich Menschen auf ein gemeinsames Bekenntnis einigen. Streit kommt an ein Ende, Versöhnung wird geschaffen. Mit seinen Talenten trägt er dazu bei, dass Kinder erzogen werden – und beschenkt werden. Er wird Bischof. Leitet Kirche. Leitet sie so, wie Christus es gewollt hat. So wird es erzählt.
 
Am Nikolaustag erzählen wir gelegentlich nicht nur von den süßen Geschenken, sondern auch von den harten Strafen. Da wird gefragt: hast du deine Talente gut gebraucht, hast du einen Blick für andere gehabt. Dein Essen und Trinken geteilt? Deine Türen geöffnet? Dich um Kranke gekümmert? Einsame besucht und eingeladen? Am Nikolaustag wird, ganz alltagspraktisch, in den Blick genommen, worauf Jesus unseren Blick gelenkt hat: haben wir etwas aus dem gemacht, was uns geschenkt wurde? Haben wir etwas aus unseren Talenten gemacht?
 
Wir sind mitten im Advent. In Zeiten, in denen auch sichtbar wird, wie talentfrei so vieles ist und so viele sind. Wenn wir Talente haben, seien es Goldklumpen oder seien es Begabungen, dann sollten wir sie nutzen. Gott will das so.
 
Daran erinnert uns Nikolaus. Heute. Nicht zu verwechseln mit dem Weihnachtsmann. Der will nur unsere Goldklumpen. Für sich. Nikolaus will sie nicht, nicht für sich. Nikolaus hat uns ein Beispiel gegeben. Damit wir geben, was wir haben. Für die Menschen, die Gott geschaffen hat. Für die, die manche arme Teufel nennen. Weil sie einfach kein Talent und keine Talente haben.
 
Im Advent sind sie es, die besonders darauf hoffen, warten, sich sehnen, dass endlich der Himmel aufgeht, ein volles Schiff kommt, dass die Not ein Ende hat. Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Erst eins. Bald zwei, drei, vier. Christus steht vor der Tür. Arm und bedürftig. Vor unserer Tür. Amen.
 
Psalm – Wünsche für das Leben
Gott gibt uns Menschen Wegweiser,
wenn wir die Spur verloren.
Öffnen wir nach innen unsre
Augen, unsre Ohren!
 
Gott gibt uns Menschen Nahrung,
wenn wir ausgehungert sind,
wenn Geist und Seele dürsten,
denn er ist uns wohlgesinnt.
 
Gott gibt uns ein Gedächtnis für die
Wege, die wir gingen.
In der Erinn’rung sehen wir
so vieles schon gelingen.
 
Gott lässt und Menschen träumen,
schenkt uns Wünsche für das Leben.
Er wird uns, was wir brauchen, gern
mit vollen Händen geben.
 
Gebet (gemeinsam)
Gott, mit vollen Händen erwarten wir dich.
Je leerer unsere Hände, desto größer unsere Erwartung.
 
Gott, mit hellem Licht erwarten wir dich.
Je dunkler unser Leben, desto leuchtender unsere Hoffnung.
Gott, mit großem Werkzeug erwarten wir dich.
Je mehr wir gefesselt und gefangen sind, desto mächtiger unser Vertrauen.
 
Gott, sei uns gnädig. Und verzeih unsere Ungeduld. In diesen Tagen. Komm. Einfach. Amen.
 
Segen
Keinen Tag soll es geben, da du sagen musst:
Niemand ist da, der mir hilft in meiner Not.
Keinen Tag soll es geben, da du sagen musst:
Niemand ist da, der mich erfüllt mit seinem Trost.
Keinen Tag soll es geben, da du sagen musst:
Niemand ist da, der mich hält in seiner Hand.
Keinen Tag soll es geben, da du sagen musst:
Niemand ist da, der mich leitet und begleitet
Auf allen meinen Wegen –
Tag und Nacht.
Sei gut behütet und beschützt.

Vorbildhaft teilen

Evangelische Gedanken zum Martinstag

Barmherzig war der Samariter. Von Jesus als Vorbild hingestellt. Wir sollen nachmachen, nachahmen, nachfolgen. Auf den Spuren des Samariters sein. Ein Ausländer, ein Außenseiter, ein Ungläubiger wird zum Maßstab. „Sucht nach Vorbildern auch außerhalb eurer eigenen Blase.“

Ich will von einem Berufssoldaten erzählen, einem Berufskrieger wider Willen. Es war 15 Jahre, fast noch ein Kind, als er zum Kriegsdienst gezogen wurde. Ungetauft uniformiert – aber nicht uniform im Verhalten, im Gegenteil. Ein Sonderling. Gütig war er zu seinen Kameraden, wunderbar in seiner Nächstenliebe, geduldig, bescheiden. „Ein Schaf im Wolfspelz“, „ein Mönch als Soldat“, „ein barmherziger Samariter 2.0“. Er tat, was Jesus gefallen hätte: Kranken stand er bei, Arme unterstützte er, Hungernde nährte er, Nackte kleidete er. Von seinem Sold behielt er nur das für sich, was er für das tägliche Leben benötigte. Bemerkenswert, überaus. Würden wir das bei einem Soldaten vermuten?

Überliefert ist eine besondere Geschichte. Mitten in einem außergewöhnlichen Winter, die Kälte forderte viele Tote, begegnete er einem nackten Armen. „Erbarm dich meiner“, flehte er alle an, die an ihm vorübergingen. Ans Stadttor hatte er sich gesetzt: einer wird sich doch erbarmen, einer der Händler, einer der Ratsleute, einer vom Geldadel. Aber niemand erbarmte sich.

Da kam der Soldat vorbei. Nichts hatte es, außer seinen Mantel und sein Schwert. Er teilt den Mantel, gibt die Hälfte dem armen nackten Mann, mit der anderen Hälfte hüllt er sich ein. Aber seine Hilfe taugt nicht zum Vorbild, sondern zum Spott: Etliche der Umstehenden begannen zu lachen, denn Martin sah mit dem halben Mantel kümmerlich aus. Andere wiederum empfanden Scham: Sie haben nicht geholfen, obwohl sie nur etwas vom Überfluss abgeben hätten müssen, ohne sich selber die Blöße zu geben. Spott und Scham, zwiespältige Reaktionen. Damals.

In der folgenden Nacht identifiziert sich Jesus mit diesem armen Nackten: Ich wurde bekleidet – der Soldat hat sich Gottes erbarmt. Mit 18 Jahren lässt sich der Soldat taufen. Wir kennen seinen Namen: Martin. Ein Soldat, der Gott geholfen hat. Gott hat sich finden lassen, in diesem Mann, der fast erfroren war, dem der Kältetod drohte.

Der barmherzige Samariter, der barmherzige Martin. Das ist eine Facette. Vorbildhaft teilen sie, geben, was sie haben. Geben mehr als andere. Sie sind leichtende Vorbilder. Zurecht laufen wir durch die Straßen, die Laternen und die Kinderaugen leuchten, wenn der Soldat auf dem hohen Ross durch unsere Straßen zieht. Am Ende – ein Feuerwerk.

Doch die andere Facette ist auch da. Die nackte Armut, die geschlagenen Existenzen, die geschlagenen Menschen am Rand unserer Gesellschaft, die wirr durch unsere Straßen Irrenden, die Menschen in den Notarztwägen und Notaufnahmen. Sie haben keinen Namen, sie bekommen keinen Namen. Und doch stehen sie, wie im Bild von Aimé Morot, im Mittelpunkt: Seht her! Es ist Christus!

Aimé Nicola Morot malt sein Bild 1880, in Zeiten der Verarmung und Verelendung vieler Menschen durch die Industrialisierung. Er stellt den Armen ins Zentrum, dem vom Kreuz abgenommenen Christus ähnlich. Seht her! Es ist Christus!

Ich will, für einen Moment, den Blick von den Menschen wegrücken, die wir so gerne stilisieren: den Soldaten, den Samariter. Sie haben, Gott sei Dank, die richtige Einstellung, die richtige Haltung, ausreichend Zeit und Ressourcen um zu helfen. Ihnen sollten wir, um Gottes und der Menschen willen, nachfolgen. Ich will den Blick auf die Menschen rücken, deren Elend wir übersehen, die unansehnlich sind, derer wir uns schämen sollten, als Einzelne und als Gesellschaft. Die vielen, die unter die Räuber fallen und geschlagen, zerschlagen, zertreten sind, an Leib und Seele, die vielen, die unter der Kälte leiden, an Leib und Seele, die vielen, an denen achtlos vorübergegangen sind, die nicht beachtet werden, deren Not nicht gesehen wird, an Leib und Seele: Christus lebt mitten unter uns.

Menschen können aus der Kirche austreten – aber Christus tritt nicht aus unserer Welt aus.

Ich finde, diese Botschaft gilt es zu teilen, weiterzusagen: Immer noch ist Christus mitten unter uns, und er braucht uns. So wie damals auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho. So wie damals im Stadttor von Amiens. Heute, hier in Krefeld.

Und ich bin gewiss: Wenn wir diesen Christus wieder unter uns sehen, dann wird es hell, dann zieht das Licht ein. „Ich bin das Licht der Welt. Wer an mich glaubt, wird nicht in der Finsternis bleiben. Sondern das Leben haben. Heute und alle Tage. Bis an der Welt Ende. Amen.

Gedanken zum Reformationsfest 2024

Citykirchenpfarrer Falk Schöller

Menschen sind wichtig.
Nicht viele, aber wenige.
Manchmal sogar nur einige wenige.
Sie bestimmen über das Schicksal von Nationen.
So blicken viele gespannt und angespannt in die USA.
Donald Trump oder Kamela Harris.
Mann oder Frau.
Weiß oder People of Colour.
Zweite Wahl oder erste Wahl.
Einheimischer oder Migrant.
Es gibt eine Wahl – in einem zutiefst gespaltenen Land.
Eine Wahl eines Menschen, einer Person.
Ein entweder oder.

Wir leben in einer Zeit, in der einzelne Personen ins Scheinwerferlicht rücken.
Wir konzentrieren und auf die, konzentrieren vieles auf sie.
So wird kompliziertes einfach.
Das geht nicht nur in den USA, das geht auch in Europa.
Von der Leyen. Meloni. Orban.
Selenski. Putin.
Manches Mal machen sogar Personen Parteien.
Die Person ist das Programm.

Das gilt nicht nur für die Politik.
Lindenberg, Grönemeyer, Westernhagen.
Adele, Tylor Swift, Beyoncé.
Das sind Menschen, die ziehen andere millionenfach in ihren Bann.
Andere sind millionenfache Millionäre, unvorstellbar reich.
Jeff Bezos, Elon Musk. Marc Zuckerberg.
Ihr Geld regiert die Welt.

All das ist nicht neu.
Vor dreitausend Jahren regierten in Ägypten die Pharaonen die Welt.
Vor zweitausend Jahren in Rom die Cäsaren.
Aus Menschen wurden Götter, wurden Göttes gemacht.
Sie wurden verehrt, forderten die Verehrung als Gott ein.
Heil oder Unheil hängt an einzelnen Personen.

Wir haben das verstanden.
Der Mensch ist wichtig.
Deutschland sucht schon lange den Superstar
Bauer sucht Frau.
Bei Voice of Germany drehen sich die Stühle und es heißt:
I want you. Ich will dich.
In meinem Team. Mit Haut und Haar.

Um gewollt zu sein, müssen wir viel tun.
Besonders gut singen, besonders gut springen.
Besonders gute Worte haben, besonders gutes Aussehen haben.
Besonders viele Fragen beantworten.
Besonders schnell schwimmen, rennen, laufen.
Dann wird einem Lange die Krone aufgesetzt.
Man ragt aus der Masse heraus, rückt in den Fokus, ist endlich im Blickpunkt.
Man steht oben auf der Treppe, einen Ballon d’or für die besten Fußballer.
Rodri, Kane, Mbappe.
Es ist alles Gold, was glänzt.

Ein wenig wollen wir von diesem Glanz auch abhaben, selbst glänzen.
So entsteht ein Kult um die Person.
Wir können uns dem schwer entziehen.
Fitnessstudios, Beauty Salons, Schönheitskliniken.
Schöner Wohnen und schönes Aussehen.
Ein wenig sollen auch wir glänzen.
Seht her. Das ist im Fokus unseres Selbstauslösers.
Das sind die Höhepunkte unseres Leben.
Der tolle Ort, das gute Essen, die netten Menschen.
Immer geht es um den schönen Schein, das rechte Licht.
Wir wollen einfach auch glänzen, kein Wunder.

Menschen sind Kult.
Manchmal andere, manchmal wir,
Manchmal ferne, manchmal nahe.
Das Image ist wichtig.
Das glänzende Image, das gute Bild.
In das wir andere rücken, in das wir uns selbst rücken.
Und das lassen wir uns etwas kosten.
Wahrlich.

Und wir, hier und heute?
Entziehen wir uns diesem Personenkult?
Oder sind wir gerade als christliche Kirche nicht mittendrin?
Wenn wir gerade heute am Reformationstag eine Person in den Mittelpunkt rücken. Eine, die wir nicht sehen können.
Jesus, den Gekreuzigten.
Christus, den Auferstandenen,
Jesus Christus, den in den Himmel gefahrenen.
Einen, von dem unser Heil abhängt.
Einen, der uns trägt, im Leben und im Sterben.
Einen, der unsere Hoffnung ist.
Jesus Christus.
Mache werfen der Kirche vor, diesen einen vergessen zu haben.
Manche glauben, wir vergessen, Jesus Christus ins Zentrum zu rücken.
Weil wir selbst im Zentrum stehen.
Weil wir uns nur noch um uns selbst kreisen.
Als Einzelne.
Aber auch als Gemeinden und Kirchen.
Weil Fragen nach Gebäuden, Finanzen, Strukturen dazu führen,
nicht mehr auf die Person zu schauen und zu vertrauen,
der wir doch uns zuallererst verdanken:
Jesus Christus.
Wir drehen uns nur noch um uns selbst – und alles dreht sich um Personen. Im Hier und Jetzt. Wenn wir uns das als Tanz vorstellen, so wären alle wie Derwische – sich um sich selbst kreisende Menschen, die irgendwann all das Gefühl für Raum und Zeit, für sich und andere verloren haben. Sie kreisen nur noch um sich selbst, sind sich selbst genug.
Der Reformator Martin Luther nannte das Sünde.
So, im ständigen Kreisen um sich, gewinnt der Mensch nichts.
Er verliert sich.
Und verausgabt sich.
Vor 500 Jahren gehörte dazu, sich und vieles von seinem Hab und Gut auszugeben, um sich selbst zu retten.
„Die Münze in dem Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt.“
Wir könnten ja mal überlegen,
wofür wir unser Hab und Gut ausgeben,
wofür opfern wir unsere Zeit opfern,
damit wir uns um uns kreisen können?
Wo tanzen wir wie Derwische immerzu im Kreis?

Wir sind heute aber hier,
um nicht wie Derwische zu tanzen,
nicht um die goldenen Kälber unserer Tage,
uns nicht auf falsche Alternativen einzulassen.

Wir sind heute hier, am Reformationstag, damit es nicht heißt:
Jude oder Grieche,
Freier oder Sklave,
Reicher oder Armer,
Mann oder Frau.
Wir sind heute hier, am Reformationstag, weil wir uns erinnern:
Gott will, dass das ganze Leben eine Buße sei
– und damit in Verantwortung vor Gott uns den Menschen gelebt wird.
Wir sind heute hier, weil wir uns nicht freikaufen wollen,
sondern festhalten, feststellen, festmachen wollen:
Wir sind bereits freigekauft.
Von allem.
Im Leben und im Tod.
Durch eine Person:
Jesus Christus.

Der Christenmensch ist ein freier Mensch.
Niemandem untertan.
Niemandem unterworfen.
Der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht.
Jedermann untertan.
Jedem Menschen zu Diensten.

Der christliche Glaube ist von Anfang an ein Gegenentwurf.
Gegen die Vergötterung von Menschen.
Gegen die Vergötterung von Macht.
Gegen die Vergötterung von Geld.
Gegen die Vergötterung von höher, schneller, weiter.
Jesus Christ – no Superstar.

Es ist verrückt, was in dieser Welt geschieht.
Wenn Menschen sich darauf wirklich einlassen.
Ein Wunder.
Kinder ohne Familie, ohne Zukunft bekommen eine neue Familie, ein neues Zuhause.
Menschen, die ihre Heimat verloren haben, finden eine neue Heimat.
Sie feiern ihren Glauben in unseren Räumen, unter dem Dach der Kulturen hat ihre Kultur Raum.
Menschen, die auf der Straße leben, finden Unterkunft, bekommen Essen, können sich frisch machen.
Orientierungslose Menschen treffen einen Punkt, an dem sie willkommen sind, sie werden begleitet.
Kranke werden versorgt und gepflegt.
Alte Menschen, dement und alleingelassen, können im Pflegeheim in Würde das Leben beenden.

All das ist alles andere als selbstverständlich.
Es ist Folge davon, dass wir in der Konzentration auf eine Person, Jesus Christus, in jedem anderen Menschen diesen Jesus Christus sehen.
Weil wir, mit einer Handvoll Wasser, einem Bissen Brot, einem Schluck Wein, aus ganz wenig ganz viel bekommen.
Jesus Christus in uns – und in jedem Menschen.
Gott will, dass allen Menschen geholfen wird.
Nicht Mann oder Frau, nicht Jude oder Grieche, nicht Sklave oder Freier.
Wir sind alle eins in Christus.

Die Reformation hat gewollt, dass jeder Mensch dies selbst versteht, dass dies selbstverständlich ist.
Keine andere Person muss uns dies vermitteln.
Wir sind in der Lage sind, selbst zu lesen und zu verstehen.
Dazu hat Luther die Bibel in seine Muttersprache übersetzt.
Dazu wurden in Luthres Vaterland Schulen gegründet.
Dazu wurden landauf landab Kirchen besucht, ob sie diese gute Botschaft wirklich unter die Menschen bringen.
Der Abstand zwischen „denen da oben und denen da unten“ wurde aufgehoben.
„Es weiß ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche ist.
Nämlich die heiligen Gläubigen und die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören.“
Heilig ist das, was im Alltag geschieht.
Heilig ist das, was vor Ort passiert – wenn Menschen in ihrem Leben auf Gott hören.
Das ist, angesichts des Lärms, den wir um uns und um andere Personen machen, schwer zu hören.
Aber es ist möglich.
Aufzuhören, aufzuhorchen.
„Jesus Christus ist das eine Wort Gottes.“
Dieses eine Wort, diese eine Person ist wichtig.
Und diese ziehen wir dann in unser Leben hinein.
Heil sein und Heil werden hängt daran, dass wir uns diesen Christus anziehen.
Nicht einige wenige, sondern möglichst viele.

So angezogen beginnen wir zu tanzen.
Jetzt aber nicht wie Derwische,
sondern miteinander, füreinander, aufeinander zu.
Im Kindergarten singt und tanzt es,
auf den Jugendfreizeiten und bei den Musicals wird gesungen und gelacht,
Chöre füllen den Raum,
Im Pflegeheim wird im Sitzen getanzt,
und so mancher Freudentanz wird im Krankenhaus aufgeführt,
wenn Menschen wieder gesund werden.

Menschen sind wichtig.
Nicht wenige, sondern alle.
Das ist unsere Wahl.
Das ist das Programm der Wahl.
Nicht unserer Wahl, sondern Gottes Wahl.
Gott hat schon gewählt.
Er hat uns gewählt.
Nicht dich oder mich – sondern dich und mich.
Und daraus folgt:
Nicht alles muss Gold sein, was glänzt.
Wir glänzen, so wie wir sind,
mit unserem Fühlen und Wollen,
unserem Denken, Reden und Handeln.
Wir folgen Gott, der uns gewählt hat.
Das ist der wahre Reichtum und die wahre Macht.
Uns geschenkt in einer Person.
Jesus Christus.
Amen.