Vorbildhaft teilen
Evangelische Gedanken zum Martinstag
Barmherzig war der Samariter. Von Jesus als Vorbild hingestellt. Wir sollen nachmachen, nachahmen, nachfolgen. Auf den Spuren des Samariters sein. Ein Ausländer, ein Außenseiter, ein Ungläubiger wird zum Maßstab. „Sucht nach Vorbildern auch außerhalb eurer eigenen Blase.“
Ich will von einem Berufssoldaten erzählen, einem Berufskrieger wider Willen. Es war 15 Jahre, fast noch ein Kind, als er zum Kriegsdienst gezogen wurde. Ungetauft uniformiert – aber nicht uniform im Verhalten, im Gegenteil. Ein Sonderling. Gütig war er zu seinen Kameraden, wunderbar in seiner Nächstenliebe, geduldig, bescheiden. „Ein Schaf im Wolfspelz“, „ein Mönch als Soldat“, „ein barmherziger Samariter 2.0“. Er tat, was Jesus gefallen hätte: Kranken stand er bei, Arme unterstützte er, Hungernde nährte er, Nackte kleidete er. Von seinem Sold behielt er nur das für sich, was er für das tägliche Leben benötigte. Bemerkenswert, überaus. Würden wir das bei einem Soldaten vermuten?
Überliefert ist eine besondere Geschichte. Mitten in einem außergewöhnlichen Winter, die Kälte forderte viele Tote, begegnete er einem nackten Armen. „Erbarm dich meiner“, flehte er alle an, die an ihm vorübergingen. Ans Stadttor hatte er sich gesetzt: einer wird sich doch erbarmen, einer der Händler, einer der Ratsleute, einer vom Geldadel. Aber niemand erbarmte sich.
Da kam der Soldat vorbei. Nichts hatte es, außer seinen Mantel und sein Schwert. Er teilt den Mantel, gibt die Hälfte dem armen nackten Mann, mit der anderen Hälfte hüllt er sich ein. Aber seine Hilfe taugt nicht zum Vorbild, sondern zum Spott: Etliche der Umstehenden begannen zu lachen, denn Martin sah mit dem halben Mantel kümmerlich aus. Andere wiederum empfanden Scham: Sie haben nicht geholfen, obwohl sie nur etwas vom Überfluss abgeben hätten müssen, ohne sich selber die Blöße zu geben. Spott und Scham, zwiespältige Reaktionen. Damals.
In der folgenden Nacht identifiziert sich Jesus mit diesem armen Nackten: Ich wurde bekleidet – der Soldat hat sich Gottes erbarmt. Mit 18 Jahren lässt sich der Soldat taufen. Wir kennen seinen Namen: Martin. Ein Soldat, der Gott geholfen hat. Gott hat sich finden lassen, in diesem Mann, der fast erfroren war, dem der Kältetod drohte.
Der barmherzige Samariter, der barmherzige Martin. Das ist eine Facette. Vorbildhaft teilen sie, geben, was sie haben. Geben mehr als andere. Sie sind leichtende Vorbilder. Zurecht laufen wir durch die Straßen, die Laternen und die Kinderaugen leuchten, wenn der Soldat auf dem hohen Ross durch unsere Straßen zieht. Am Ende – ein Feuerwerk.
Doch die andere Facette ist auch da. Die nackte Armut, die geschlagenen Existenzen, die geschlagenen Menschen am Rand unserer Gesellschaft, die wirr durch unsere Straßen Irrenden, die Menschen in den Notarztwägen und Notaufnahmen. Sie haben keinen Namen, sie bekommen keinen Namen. Und doch stehen sie, wie im Bild von Aimé Morot, im Mittelpunkt: Seht her! Es ist Christus!
Aimé Nicola Morot malt sein Bild 1880, in Zeiten der Verarmung und Verelendung vieler Menschen durch die Industrialisierung. Er stellt den Armen ins Zentrum, dem vom Kreuz abgenommenen Christus ähnlich. Seht her! Es ist Christus!
Ich will, für einen Moment, den Blick von den Menschen wegrücken, die wir so gerne stilisieren: den Soldaten, den Samariter. Sie haben, Gott sei Dank, die richtige Einstellung, die richtige Haltung, ausreichend Zeit und Ressourcen um zu helfen. Ihnen sollten wir, um Gottes und der Menschen willen, nachfolgen. Ich will den Blick auf die Menschen rücken, deren Elend wir übersehen, die unansehnlich sind, derer wir uns schämen sollten, als Einzelne und als Gesellschaft. Die vielen, die unter die Räuber fallen und geschlagen, zerschlagen, zertreten sind, an Leib und Seele, die vielen, die unter der Kälte leiden, an Leib und Seele, die vielen, an denen achtlos vorübergegangen sind, die nicht beachtet werden, deren Not nicht gesehen wird, an Leib und Seele: Christus lebt mitten unter uns.
Menschen können aus der Kirche austreten – aber Christus tritt nicht aus unserer Welt aus.
Ich finde, diese Botschaft gilt es zu teilen, weiterzusagen: Immer noch ist Christus mitten unter uns, und er braucht uns. So wie damals auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho. So wie damals im Stadttor von Amiens. Heute, hier in Krefeld.
Und ich bin gewiss: Wenn wir diesen Christus wieder unter uns sehen, dann wird es hell, dann zieht das Licht ein. „Ich bin das Licht der Welt. Wer an mich glaubt, wird nicht in der Finsternis bleiben. Sondern das Leben haben. Heute und alle Tage. Bis an der Welt Ende. Amen.