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Judaskuss – Passionsandacht 22.03.2022 in der Pauluskirche Krefeld

Ein ganz normaler Morgen, in vielen Familien. „Mach es heute gut!“

Ein Kuss zum Abschied, oft flüchtig, routiniert, alltäglich. „Unsere Wege trennen sich jetzt, sei behütet, auf Wiedersehen! Ich mag dich.“

Ein ganz normaler Kuss, ein ganz normaler Gruß. Für all das Unvorhergesehene, was auf einen zukommt, eine Versicherung: Ich freue mich, wenn du wieder kommst, am Abend, nach den Mühen des Alltags. Ein Kuss für die normalen Geschichten im Lauf des Lebens.

Ein ganz besonderer Abend, in der Jüngerfamilie. „Nichts ist gut, nichts wird gut.“

Ein Kuss zum Abschied, ein Zeichen. Vorher verabredet. „Unsere Wege trennen sich jetzt. Es gibt kein Wiedersehen. Ich mag dich nicht mehr.“

Ein Kuss, der Geschichte schreibt, der die Geschichte trennt in ein vorher und nachher. Ein Kuss für all das Vorhersehbare, was jetzt auf Jesus zukommt – und auf Judas. Judas kauft sich ein Stück Land, die Wanderschaft seines Lebens ist zu Ende. Jesu wird festgesetzt, auch seine Wanderschaft ist zu Ende. Ihre Wege trennen sich. Gewaltig.

Gewalt trennt Jesus und Judas, eben noch vereint gelaufen, um Geschichte zu machen. Der Judaskuss, ein Kuss unter Brüdern, es folgt unnötiges Blutvergießen. Doch Jesus widersetzt sich der sinnlosen Gewalt, selbst jetzt noch heilt er, versöhnt er. Von ihm geht mitten in der Gewalt Heil aus. Schwerter senken sich. Jesus enttarnt, wie unnütz Gewalt und Hass sind: Täglich, alltäglich hättet ihr Hand an mich legen müssen – ihr aber wartet auf die dunkle Stunde und nutzt die Macht der Finsternis. Man möchte ein „Pfui Teufel!“ rufen, zu Judas, zu Hohepriestern, zu Hauptleuten, zu den Ältesten, den mächtigen Männern, Herren über Leben und Tod.

„Pfui Teufel!“ den Verrätern der Weggefährten, die lange vereint durch die Geschichte gelaufen sind. „Pfui Teufel!“ den Hohepriestern, die die Gewalt im Namen Gottes rechtfertigen. „Pfui Teufel!“ den Wachleuten, die mit Schwertern und Stangen auf den Ölberg einbringen, an dem Jesus und die Jünger den Abend in Furcht und Angst verbringen – sie ahnen, welch gewaltiges Ende dieser Abend nehmen wird. Jesus betet, bittet, fleht: „Vater, nimm den Kelch von mir.“ Jünger, wie Brüder Jesu, beten zum selben Gott, nennen auch ihn Vater. Gott soll es friedlich richten, bevor die Menschen gewaltig richten. Doch Gott, der Allmächtige, greift nicht ein, noch nicht, es greift Gewalt um sich. „Pfui Teufel“ ihr Ältesten, ihr Mächtigen die ihr eure Truppen aufgestellt habt, damit Blut fließt. Unnötiges, sinnloses Blutvergießen, Folge eines Streits zwischen Brüdern, die einstmals vereint waren, und sich offensichtlich getrennt und geschieden haben. „Pfui Teufel!“, so löst man doch keinen Konflikt – man hätte doch friedlich, alltäglich, wörtlich den Konflikt lösen können, friedlich verhandeln statt kriegerisch handelt. „Pfui Teufel!“

Und Judas: für seinen Verrat, für das Auslösen des Konfliktes bekommt er den Judaslohn, kauft sich ein Stück Land. Es wird ihm nicht zum Segen gereichen, so erzählt es Lukas. „Von dem Lohn für die ungerechte Tat kaufte sich Judas ein Stück Land. Dort kam er durch einen Sturz ums Leben. Sein Körper platze auf, und die Eingeweide quollen heraus. Alle Bewohner von Jerusalem haben davon erfahren. Deshalb wird dieses Stück Land Blutacker genannt.“

Dem Verrat unter Brüdern folgt Gewalt, und der Judaslohn wird zum Fluch. Und alles begann mit einem Kuss, nicht flüchtig, sondern verflucht, kein „Auf Wiedersehen!“, sondern „Auf Nimmerwiedersehen!“ Ein Kuss zwischen Brüdern, der Geschichte schreibt, traurige Geschichte.

Mich erinnert der Judaskuss an den sowjetischen Bruderkuss – auch er Grundlage für Gewalt und Blutvergießen in unseren Tagen. Sinnlose Gewalt, der Lohn ein Stück Land, Blutacker werden es sein, die ukrainischen Städte am Schwarzen Meer, wo auch heute das Leben in den Tod stürzt und viele Menschen sich auf die Flucht machen. Die Jünger Jesu, auch sie waren hinfort nicht mehr gesehen. Der Verräter selber hält sich aus der weiteren Geschichte raus, andere Weggefährten werden zu Lügnern und Verleugner, andere tauchen einfach ab, andere greifen zum Schwert.

Wo Gewalt herrscht, wird es einsam. Menschen machen sich aus dem Staub, fliehen. Verstört von der unsinnigen Gewalt. Das Leben geht nun einen irren Gang, es wird Recht gesprochen, wo Unrecht regiert. Es geht nicht mehr vor Gott und um sein Gericht, es geht vor Pilatus und Herodes, es geht vor das aufgebrachte Volk, falsch informiert, aufgehetzt, außer sich. Doch noch ist es nicht so weit. Noch sind wir mitten in der gewaltigen Szene am Abend, blicken erschrocken und verstört auf die unheilvollen Folgen eines Bruderkusses.

Wir sind mittendrin – und doch außen vor. Wir können nichts tun, scheinbar. Oder doch? Wir können es zumindest versuchen, an diesem Abend. Das tun, worum uns Jesus bittet: „Wachet, betet, fallt nicht in Anfechtung.“ Wir können wachsam sein, damit das Dunkel nicht auch uns überkommt. Wir können beten, mit Gott in Verbindung bleiben, dem Gott des Friedens und des Heils. Wir können bitten, nicht in Anfechtung zu fallen.

Wer in Anfechtung fällt, den zerreißt, was geschieht, der wird irre, weil er nicht glauben kann, was er sieht. Wer in Anfechtung fällt, der droht, Gott aus den Augen zu verlieren und sich an der Spirale der Gewalt zu beteiligen. Ein Jünger Jesu beginnt schließlich mit der Gewalt, der Erstschlag ist Folge der Anfechtung. Im juristischen Sinne meint Anfechtung, sich einem getroffenen Urteil, einer ausgesprochenen Entscheidung widersetzen, eine höhere Instanz anrufen, die Revision einfordern. Revision – einer soll noch einmal drauf schauen, das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen. So empfinden es auch manche Jünger – aber weil Revision nicht vorgesehen, nicht zugelassen ist, greifen sie zum Schwert.

„So nicht“, sagt Jesus. Alles, was ihr tun könnt, ist wachen, beten, nicht in Anfechtung fallen. Darum bittet Jesus die Jünger damals, und das ist das Mindeste, was auch wir tun können. Ja, wir können sogar noch mehr tun: uns um all diejenigen kümmern, die vor der Gewalt fliehen, deren Lebensgeschichten sich durch einen verräterischen Kuss unter Brüdervölkern so unheilvoll wendet.

Leider ist die Passionsgeschichte aktuell. Verrat und Gewalt hören nicht auf in dieser Welt. „Seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ So geht der Blick nach vorne, auf den Sonntag hin, das kleine Osterfest mitten in der Passionszeit. Dieser vorausschauende Blick ist das eine, beten und wachen das andere. Auf das wir all dies können, als Jünger Jesu heute.

Und Gott geht mit uns, durch diese gewaltigen Tage, auf dass wir Botschafter des Friedens sind und bleiben. In diesen verrückten, irren Zeiten, an diesem Abend. Gott sei mit uns. Mach es heute gut. Amen.