
Wie wir zu sein haben – paulinische Impulse als Vorsatz für das neue Jahr
Predigt über Röm 12, 19. Januar 2025, Friedenskirche/Alte Kirche
Liebe Gemeinde,
stellen Sie sich einmal vor: Sie haben eine Armbanduhr. Sie zeigt ihnen die Zeit an. Sie orientieren sich an ihrer Uhr. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Die Uhr hilft ihnen: damit sie pünktlich Bahn und Zug erwischen, rechtzeitig beim Arzt sind, Vereinbarungen einhalten. Ihre Uhr gibt ihrem Leben Struktur.
Jetzt hat ihre Armbanduhr ein Problem. An jedem Tag, binnen 24Stunden, geht sie fünf Minuten nach. Sie haben sich also einen Zettel auf den Küchentisch gelegt: Uhr wieder zurückstellen. Das machen sie. Jeden Morgen. Und sind so immer pünktlich, immer rechtzeitig, zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Irgendwann aber vergessen sie den Zettel auf dem Küchentisch. Und stellen die Uhr auch nicht mehr jeden Tag richtig. Aus fünf Minuten werden zehn, fünfzehn, zwanzig. Jeden Tag sind sie ein wenig später dran. Was passiert? Zunächst ganz wenig, dann aber immer mehr. Der Bus ist schon weg, der Termin beim Arzt schon vergeben, ihre Freundin im Café verärgert, der Gottesdienst schon aus. Irgendwann wird ihre Nacht zum Tag. Sie fallen aus der Zeit, ihr Leben ist nicht mehr mit den anderen synchronisiert, sie leben in einer anderen Zeit, sind irgendwie aus der Zeit gefallen.
Was könnten sie tun – um ihrer Armbanduhr, die ihrem Leben Struktur gibt, zu vertrauen? Sie könnten ihre Morgenroutine wieder einführen. Eine Möglichkeit. Sie könnten aber auch die Uhr zum Uhrmacher bringen. Damit er die Einstellung der Uhr ändert. Damit die Uhr wieder richtig geht. Eigentlich ganz einfach.
Warum versuchen Sie nicht selber, die Einstellung der Uhr zu ändern? Nun ja, ich vermute mal, die meisten von uns können eine Uhr nur von außen einstellen – nicht aber das innere der Uhr verstehen, geschweige denn reparieren. Da braucht es schon Spezialkenntnisse. Das überfordert die meisten.
Mit der Uhr ist es einfach. Relativ gesehen. Sie drehen jeden Morgen am Rad – und dann geht es wieder eine Zeit lang. Sie bringen die Uhr zu jemandem, der sie wieder richtig einstellt – und dann geht es eine ganze Zeit lang.
Heute ist ja schon der 19. Januar. Das neue Jahr 2025 ist schon wieder fast drei Wochen alt. Vielleicht haben Sie sich etwas für dieses neue Jahr vorgenommen. Manche sind ja, nach und nach, nicht aus der Zeit gefallen, aber aus ihren Kleidern gewachsen. Jeden Tag sind nur ein paar Gramm Gewicht, jede Woche nur ein paar Millimeter Bauchumfang dazu gekommen. „Das will ich ändern!“, „Ich nehme mir vor, abzunehmen.“ Wie soll das gehen? Zunächst versuchen wir es, wie mit der Uhr. Mit kleinen Zetteln, vielleicht. „Gemüse einkaufen!“, „Nicht nachschöpfen!“, „Der Kühlschrank bleibt nach 18 Uhr zu!“, „Dry January – mein Feierabend braucht kein Bier!“ Es beginnt mit kleinen Schritten, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute kontrollieren, was von außen in mich hereinkommt. Klingt einfach. Ist es aber nicht.
Denn wie bei der Uhr kann man zwar an einigen kleinen Rädern außen drehen, aber das Problem ist oft innen. Problem von innen. Was von außen an mich herankommt beeinflusst, was von außen in mich hereinkommt. Dazu gehört dann so etwas wie Stress oder Streit, dann geht es um Frust. Oder um Leistung und Belohnung, dann geht es um Lust. Oder um Geselligkeit und Gewohnheit, dann geht es um Gemeinschaft, um Kultur. Ehrlicherweise: das sucht man, das sucht frau sich nicht immer selber aus. Wenn sie das ändern wollen, dann geht es um mehr als um die äußeren Rädchen jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Dann müsste Mensch sein Verhalten und seine Gewohnheiten ändern, die Struktur des Lebens und die Kultur des Miteinanders ändern, die Haltung und Einstellung zum Leben ändern. Dann geht es ans Eingemachte, um das Innen. Wohin bringt sich ein Mensch dann, wenn der Körper aus den Fugen geraten ist? Wer ist denn der Uhrmachermeister für uns Menschen? Wer ist ein Therapeut für meine Seele, wer ist die Hilfe für meinen Körper. Hilft Psychotherapie, hilft Physiotherapie? Das ist schwierig, wirklich. Da braucht es oft mehr als gute Vorsätze. Da geht es ja auch um das Bild meiner Selbst, um mein Selbstbild, wenn ich meine Erscheinung ändern will.
Noch schwerer aber ist es, sich wirklich zu ändern. Nicht nur das, was ich tue. Sondern das, was ich bin, was ich fühle, wie ich urteile, wem meine Empathie gilt, mit wem ich mitfühle und wem nicht, was mich anzieht, was mich abstößt. Mein Herz, meinen Sinn zu ändern. Jetzt geht es um das Eingemachte. „Der Mensch sieht was vor Augen ist, das augenscheinliche, Gott was vor Herzen ist, das herzliche.“ Aber wie ändere ich, was Gott so herzlich bei mir sieht. Gottes Blick ist herzlich, ist das schmerzlich?
Jesus hat bei seiner Feldrede, der Bergpredigt, den Landmenschen aus Israel und Palästina ins Gewissen geredet. Das haben wir vorher gehört. „Es geht nicht um Auge und Auge, Zahn um Zahn. So entsteht kein Frieden. Es geht um Versöhnung, Vergebung. Sonst kommt ihr aus der Spirale der Gewalt niemals raus. Es geht darum, andere nicht mehr als Dummkopf, als Idioten zu beschimpfen. Sonst bleiben Menschen in Schubladen stecken, werden klein gemacht, statt groß zu werden. Wenn ihr an einen Gott glaubt – und das tun seit jeher die meisten Menschen in dieser Region, dann ändert euch: Betet für die, die euch verfolgen. Euer Ja sei ein Ja. Euer Nein sei ein Nein. Wenn ihr einen Friedensvertrag schließt, macht es einfach und klar. Das hat Jesus gesagt. In einer Region, wo schon immer viele Religionen und Kulturen sich um das Land gestritten haben. Eine Rede an die Landmenschen.
Nun sind wir keine Landmenschen, sondern Stadtmenschen. Und nicht wie die Zuhörer Jesu ganz in der Welt des Alten, des Ersten Testaments zu Hause. Wir haben nur wenige Orthodoxe unter uns – die haben es in der Stadt oft schwer. Woran sollen wir uns orientieren?
Hier hilft, welch ein Wunder, der Apostel Paulus. Er schreibt an die Gemeinde in Rom. Und wie fast immer in seinem Schreiben an Stadtmenschen, in den Briefen nach Korinth, nach Ephesus, nach Thessalonichi, nach Rom schreibt er den Stadtmenschen etwas ins Stammbuch. Etwas von dem, wie es aussehen soll, wenn Gottes herzlicher Blick nicht schmerzlich ist, sondern sein Wohlgefallen findet.
Paulus also, Gottes herzlicher Briefschreiber, an die Christen in Rom. Paulus, der Apostel, von Gott gesandt, um Gottes herzliches Sehen den Menschen nahe zu bringen. In Rom sind die Christen eine Minderheit. In der Stadt herrscht eine große Vielfalt. Dort leben viele Ausländer, sie sind gekommen und geblieben. Denn dort gibt es Wohnung, Arbeit. Dort gibt es Lebensmittel und Handel. Es ist einfacher, in der Großstadt zu überleben als in einem kleinen Dorf. Erst recht als Fremder. Aber das Zusammenleben ist recht schwierig. Es gibt viele Ordnungsprobleme, also auch viel Ordnungsdienst. In der Stadt leben viele mit- und nebeneinander. Arme und Reiche. Gesunde und Kranke. Einheimische und Aushausige. Auch das religiöse Zusammenleben ist bunter. Es gibt nicht das gemeinsame, eine, alte Testament, mit Regeln, die alle kennen. Es ist, schlicht und einfach, unübersichtlich.
Paulus hat einen Auftrag, uns ein Ziel. Er will, dass die kleine christliche Gemeinde groß rauskommt. Er will, dass sie herausragend sind. Erkennbar. Erkennbar anders. Macht es euch nicht einfach. Macht euch nicht einfach gleich. Seid eine Elite. Seid Gottes Bodentruppe.
Paulus legt die Messlatte für die Stadtmenschen hoch. Ganz wie Jesus die Messlatte für die Landmenschen hochgelegt hat. Bergpredigt dort, Römerbrief hier.
Eure Liebe soll aufrichtig sein. Verabscheut das Böse. Haltet am Guten fest. Liebt einander herzlich. Übertrefft euch gegenseitig an Wertschätzung. Lasst euch vom Geist anstecken, seid einfach begeistert. Freut euch, dass ihr Hoffnung habt. Bleibt standhaft, wenn ihr leiden müsst. Hört nicht auf zu besten. Helft Menschen in Not. Seid jederzeit gastfreundlich. Segnet die Menschen, die euch verfolgen. Segnet, verflucht nicht. Freut euch mit den Fröhlichen. Weint mit den Weinenden. Seid auf Einigkeit aus. Werdet nicht überheblich. Lasst euch auf die Unbedeutenden ein. Baut nicht auf eure eigene Klugheit. Vergeltet nicht Böses mit Bösem. Habt anderen Menschen gegenüber nur Gutes im Sinn. Lebt mit allen Menschen in Frieden – soweit das möglich ist und an euch liegt. Nehmt nicht selbst Rache. Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse mit Gutem.
Paulus Worte sind einfach. Und klar. An die Stadtmenschen. Wenn alles kompliziert ist, braucht es einfache, klare Ansagen. Und jetzt geht es darum, dass in das Leben jedes und jeder Einzelnen und in das Leben der christlichen Gemeinde insgesamt zu ziehen. Damals, in Rom, da gab es noch keinen einzigen Kirchturm. Aber heute, da gibt es viele. Nicht nur in der Stadt Rom. Und diese Kirchtürme zeigen doch: Seht her, ihr Menschen: hier ist etwas hervorragendes, etwas herausragendes, hier ist Gottes Gemeinde mitten in der Stadt. Mit großem Anspruch: Frieden. Erlösung. Hoffnung. Mit großem Namen: Paulus. Luther. Christus.
Wir stehen hier, als Gemeinde, mittendrin. Sind auch nicht mehr als damals. Als Paulus geschrieben hat. Und stehen vor einer großen Aufgabe. Als getaufte, gesegnete Menschen herauszuragen, hervorzuragen mitten in der Stadt. Wie das geht – Paulus hat es uns Stadtmenschen ins Stammbuch geschrieben.
Aber konkret? Gott will uns herzlich gerne helfen. Ganz einfach. Jesus sei meine Freude. Bleibt unermüdlich, auch im Gebet miteinander und füreinander. Bleibt in Beziehung, im Austausch, feiert miteinander Abendmahl. Erinnert euch: Gott hat sich für dich gegeben. Seid demütig. Bleibt bereit, euch zu korrigieren, auch untereinander. Geht freundlich auch mit den Schwächen des anderen um.
Paulus weiß: das ist kein Vorsatz für ein Jahr, sondern erfordert lebenslangen Einsatz. Es ist keine Kurzstrecke. Es ist nicht mit guten Vorsätzen getan. Es braucht lebenslang die Arbeit an sich und seinen Einstellungen. Christsein ist ein herausfordernder Langstreckenlauf. Die Stadtmenschen, die den Brief des Paulus gelesen haben, haben das verstanden, und ihn immer und immer wieder gelesen und vorgelesen, ihn kopiert, weitergegeben, überliefert, übersetzt. Wir können seinen Brief immer noch lesen – und uns immer noch an ihm orientieren.
Aber warum eigentlich?
Nun ja. Wenn wir die Uhr wieder einstellen, fallen wir nicht mehr aus der Zeit. Wenn wir uns neu einstellen mit dem, was von außen in uns hereinkommt, bleiben wir in Form und hoffentlich auch gesund. Wenn sich die Landmenschen in Israel und Palästina an der Bergpredigt orientieren, ist Freuden möglich.
Und wenn wir uns, als Einzelne, als Gemeinde, als Kirche an Paulus orientieren, dann winkt uns ein hoher Siegpreis, ein enormes Preisgeld? Versprochen. Das Leben. In Fülle. In Ewigkeit. Der Friede Gottes. Mehr als wir uns vorstellen können. Wir bleiben bewahrt, herzlich und sinnlich, in Jesus Christus. Unserem Herrn. Amen.
Jetzt könnte Schluss sein. Aber halt. Einen Gedanken habe ich noch. Ich war jetzt im Urlaub. In einer großen Stadt. Ohne große Kirchen in der Mitte. Aber mit einem großen Gefängnis. Mitten in der Stadt. Zum Glück ein ehemaliges Gefängnis. Ich war in Johannesburg. In diesem Gefängnis saß einst Nelson Mandela. Wie so viele schwarze Menschen. Willkürlich eingesperrt. Unter furchtbaren Bedingungen. Dieser Nelson Mandela hat sich an Jesus und an Paulus orientiert. Und hat etwas herausragendes geschaffen. Einen friedlichen Übergang. Das Ende der Apartheid. Eine Versöhnung mit der Geschichte. Einen Macht- und Herrschaftswechsel. Mandela hat gezeigt: Es geht. Man kann mit der Bergpredigt und mit dem Römerbrief Politik machen, Gesellschaft gestalten. Es sind aber nicht nur groß gewachsene Männer, sondern auch die kleinen Frauen. Im Urlaub habe ich viel von ihnen gelesen. Von Angela Merkel, die unser Land lange regiert hat, eine ostdeutsche Frau ganz vorne. Und eine Frage der Chemie, von einer bemerkenswerten Frau. Und Pi mal Daumen, von einer Mutter und Großmutter, die sich traut, in fortgeschrittenem Alter Mathematik zu studieren. Es sind Lesefrüchte aus dem Urlaub. Falls Paulus zu unkonkret ist, es gibt viele Bücher, wo wir konkret nachlesen können, wie herausragendes, hervorragendes geschehen kann. Damals wie heute. im Urlaub. Der Buchhändler ist unter uns. Sicher hat er auch gute Tipps, was wir jeden Tag lesen können, oder einander vorlesen oder uns vorlesen lassen. Damit es klappt, dass wir miteinander wachsen und reifen. Was damals möglich war, in Rom, warum sollte das nicht wieder und wieder möglich sein? Das Jesus uns herzlich ansieht und wir ihn. Jesu meine Freude. Nun aber. Amen.
Falk Schöller, Citykirche Krefeld